Weinreb Stiftung

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Hier werden wichtige Themen von Autoren beleuchtet, die mit dem Werk von Friedrich Weinreb vertraut sind.

Der weise Erzähler



Wie sich Friedrich Weinreb, einem der gefragten Wirtschaftswissenschafter Europas, die Bibel neu erschloss und wie er zum Sprachrohr der heiligen Überlieferung wurde. Von Manuel Gogos (02.08.06).



Er war einer der wenigen Juden Osteuropas, die der Vernichtung entgingen. 1910 in Lemberg geboren, entstammt er den großen Dynastien galizischer Rebben. Von den Großeltern kommen die Geschichten, das Erzählen beginnt. Sie verkörpern etwas, eine Ruhe, die kein Wissen nötig hat, die aus der Gewißheit stammt. Das zieht den Jungen unwiderstehlich an, so sehr, daß er sich im Alter von zwölf Jahren entgegen dem Wunsch der Eltern - Gläubigen deutscher Hochkultur - entscheidet, ‘umzukehren’ und gemäß jenen alten Überlieferungen zu leben. Von weit her reichen die herauf. Er wird ein Leben brauchen, um sie zu erschließen. Und es wird einsam sein um ihn, denn es sind nicht viele, die den Schlüssel besitzen.


Als Flüchtling kommt er mit seinen Eltern über Wien nach Scheveningen in Holland. Eigentlich hat er Philosophie studieren wollen. Schopenhauer öffnet ihm die Augen, und Bergson. Aber als ihm Vater und Mutter binnen einen Jahres wegsterben, muß er sich für einen Brotberuf entscheiden: Wirtschaftswissenschaft.


Im Krieg bekämpft er den Wahnsinn der Geschehnisse mit wahnwitzigen Mitteln und verfaßt - angeblich im Dienste der Wehrmacht - eine «Weinreb-Liste»; wer dort notiert ist, dem wird Aufschub gewährt vom Tod. Eine reine Erfindung zwar, die aber die Nazis zu täuschen vermag. Unfaßbar. Hunderten rettet er so das Leben. Dabei wehrt er sich strikt, als Lebensretter zu gelten.
Nach dem Krieg wird er verleumdet, geht für sechs Jahre ins Gefängnis – nach dreieinhalb Jahren wird er freigelassen. Über diese ganze Zeit hat er Rechenschaft abgelegt in dem monumentalen Werk «Die langen Schatten des Krieges», Literaturpreis der Stadt Amsterdam 1969. Nach dem Gerichtverfahren, einer Art Schauprozeß, in dem die holländische Öffentlichkeit ‘das Lamm in die Wüste treibt’, um sich selbst reinzuwaschen, beginnt Weinrebs berufliche Karriere – die eine Seite - immer befruchtet von der Wesensseite - seines Lebens.


Mit 28 Jahren war er bereits Professor für Ökonometrie. In den fünfziger Jahren ist er als Ökonomie-Professor in Indonesien, Indien und der Türkei tätig. Als einer der gefragten Wirtschaftsexperten Europas entwirft er mit anderen Experten wie den Kybernetiker Norbert Wiener den Fünfjahresplan für Indien. In Ankara beruft man ihn zum Dekan und dann zum Rektor der neu gegründeten Middle East Technical University. Und in Genf lädt man ihn als Gastdozenten ans Institut für Hautes Études International in Lausanne ein. Er arbeitet für die Vereinten Nationen in Genf und verfaßt Expertisen. In dieser Zeit verkehrt er mit den internationalen Wirtschaftseliten und erkennt die Unzufriedenheit derer, die «oben» angekommen sind: «Viele der höheren Mitarbeiter suchten Psychiater aller Art auf. Ich wußte nicht einmal, daß es so unterschiedliche Richtungen auf diesem Gebiet gab. Und viele waren dem Alkohol verfallen, und, was ich erst langsam begriff, mehr als ich glauben konnte waren kokain- und heroinsüchtig,» schreibt Weinreb in seinem autobiografischen Werk.


Wenn es sich zu erzählen beginnt

Dabei glaubt er gar nicht an die Planbarkeit des Lebens. Die Erfolge fliegen ihm zu. Und Ehrungen dieser Art sind ihm eher verdächtig. Für ihn sind sie nichts als ‘Abfallprodukte’ seines Weges nach innen. Sie haben ebensowenig mit ihm zu tun wie die Schmähungen von einst. Während dem Wissenschaftler Ehrentitel verliehen werden, sucht der Weise zurückzutreten aus der Erscheinung. Und er findet seine Berufung darin, die Grenzen auf beiden Seiten zu durchbrechen. Ihm geht es eigentlich um etwas ganz anderes als um seine Person. Es geht ihm um das, was immer mächtiger in ihm zum Durchbruch kommt, zur Sprache drängt, zum Ausdruck.
In einem Umweg über Jerusalem läßt Weinreb sich endlich in der Bankenmetropole Zürich nieder, läßt beruflich alles Weltliche fahren und beginnt zu sprechen. Das ist der Durchbruch von Weinreb, dem Erzähler. «Es» beginnt sich bei ihm zu erzählen, und unter dem Andrang der Einfälle kann er sich nur noch verblüfft anhören, was da durch ihn hindurchtönt. Er fließt über, verschwendet sich bis zu seinem Tod 1988 in über 50 Büchern und weit über dreitausend Vorträgen. Seine Energie scheint ebenso unerschöpflich wie die Themen, über die er spricht. Gerade die Begegnung mit den Zuhörern ist ihm Herzensangelegenheit. Vor ihnen entfaltet er jene Schätze, die er durch Begegnungen mit Menschen und Büchern lebenslang gesammelt hat: hell-sehende Kommentare zu Leib und Seele, Leben und Tod, Mann und Frau. Zu fast jedem Buch der Bibel, den Evangelien, der Thora, dem Sohar.


Seine Worte öffnen Räume und Welten

Weinreb holt die Offenbarung aus dem Exil der talmudischen und theologischen Spitzfindigkeiten wieder in die Mitte des Menschen zurück. Die Bibel erschließt sich neu und frisch. Christentum und Judentum sind für ihn wie die zwei Kammern eines Herzens; so bezieht er selbstverständlich die christliche Mystik mit ein, Sufismus und Zen, die Testamente der Menschheit. Seine Worte eröffnen Räume, Welten, die wir mit ihm als «Psychopompos» - Seelenführer durchwandern. Und da werden wir Weinrebs als Traumdeuter ansichtig. Ein Deuter, der den Traum nicht wegerklären will, wie Freud und Jung es taten; Weinreb erinnert uns daran, daß der wache Mensch nur der halbe ist. Wir unterscheiden Tag und Nacht, das Leben aber ist unteilbar. Der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens haben eine Wurzel.
Weinreb ermuntert uns, sich nicht dem Traum vom Wachen her zu nähern, sondern umgekehrt, vom Traum dem Wachen. So liest er auch die Heiligen Schriften, vom Träumerischen her. Darin diagnostiziert Weinreb die Krankheit unserer Zeit: Das wir nicht ertragen können, daß es kommt, wie es kommt. Und damit nähern wir uns der Mitte seiner Lehre, nicht seiner Person, sondern dessen, was vor der Zeit da war und noch nach der Zeit dasein wird. Egal in welchen der Spiegel wir schauen - den des Alltag, der Bücher, der Begegnungen - immer ist der Subtext von Weinrebs Hermeneutik (Kunst der Über-setzung): «Das bist du selbst!»


Antworten ist danken

Wir alle leben im «tiefsten» Ägypten. Als unsere Kinderseelen zur Welt kamen, wurden sie neun Monate lang von einem Engel in die Mysterien eingeweiht, nach der Geburt aber haben wir alles vergessen. Wir sind dort hineingeraten, in den verwunschenen Garten der Neurosen, der Langeweile. Himmel und Erde sind überwuchert mit dichtem Dornengebüsch. Und das ist der «Fall» gerade für diejenigen, die der Tagespolitik, dem Tagesjournalismus, dem Aktienmarkt oder anderen Eintagsfliegen nachjagen. Wir leben alle gleichsam im Exil, im «Waste Land». Nur unsere Sehnsucht - die durch unzählige Süchte, die wir uns zusammengaukeln, ganz unstillbar ist -, sie zeigt wie eine Kompaßnadel den Weg in die wahre Heimat an. Die Sehnsucht hat eine Ahnung davon, wie das Ursprüngliche Antlitz des Adam Kadmon war. In der Hölle der Frage, im Albtraum der Realität ist die Antwort laut Weinrebs «Psychologie der Sehnsucht» stets «Teschuwa», Rückkehr. Und darin liegt für ihn auch das besondere Schicksal des jüdischen Volkes: Nicht, daß es in den Tausenden von Jahren keine - nationale - Heimstatt hatte ist das Zeichen seiner Auserwähltheit.
Der Hebräer, der «Jenseitige», wie Weinreb übersetzt, zeugt davon, daß wir von woanders her leben. Die von «Drüben» rufen in Erinnerung, daß sich keiner von uns das Leben selber gibt. Es ist wie das Gleichnis des verlorenen Sohnes, der in der Fremde die Schweine hütet. In seiner Entwicklung muß er erst an diesem «deep shit point» ankommen, bevor er umkehrt in die Umarmung seines ihm «entgegenwartenden Vaters».
Weinreb, die Ausnahmeerscheinung. Ein Riese also, auf dessen Schoß wir sitzen, oder zu dessen Füßen. Der Großvater, der nicht nur ahnte, der wußte, der weise Alte aus den Märchen, der die Formel gefunden hat, wie wir aus Stroh Geld spinnen können, der den Stein der Weisen gefunden hat? «Seine Vorträge und Bücher sind Überlieferung», sagt der Weinreb-Herausgeber Christian Schneider, «sie überliefert dem Leben seinen Sinn.»

Die genannten Bücher und weitere Vorträge auf CDs können auf dieser Website unter der Rubrik Bücher und Tonträger bestellt werden



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