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Thema

Hier werden wichtige Themen von Autoren beleuchtet, die mit dem Werk von Friedrich Weinreb vertraut sind.

Der Traum vom Anfang der Sprache



Es gibt eine alte Tradition der Reflexion über den Ursprung der Sprache. Dazu gehört auch die jüdische Überlieferung, die sich den Ursprung der Sprache erträumt. Kurz gesagt: Der wahre Ursprung der Sprache ist im Traum der Sprache selber zu finden. Die mythische Dimension der Sprache gehört innerlich zum Erlebnis ihres Ursprungs. Das vorliegende Referat wurde im Rahmen des Weiterbildungsseminars in der Reihe «Wissenschaft und Weisheit» zum Thema «Vom Anfang und Ende der Sprache» an der Universität Zürich gehalten. Eugen Baer (06.07.09).


Sprache kommt uns, wie uns der Traum kommt. Jenseits
unseres Bewußtseins muß Sprache schon existieren, damit wir
sprechen können. Ich meine das genau im Sinne des Johannes
Evangeliums: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei
Gott, und Gott war das Wort. Ein paar Verse weiter heißt es
dann: «Und das Wort ward Fleisch.» Im Hebräischen ist das Wort
für Fleisch dasselbe wie das Wort für Botschaft. Es bringt uns
also eine Nachricht aus unserem Jenseitigen, von jenem Teil
unseres Lebens, den wir auch das Nichtbewußte nennen
können.
(Friedrich Weinreb, Selbstvertrauen und Depression, Seite 9 f)

Alles, was wir in unserem Leben ins Wort bringen können, kann
in der Zeit nicht untergehen. Es ist also sehr wichtig, nicht nur im
Sprechen, sondern auch in der Vorstellung, der Phantasie, in
den Gedanken, im Wünschen und im Hoffen, es in das Wort
hineinzubringen, in ein Bild, in eine Sache.
(Weinreb, Wort, Sprache und Sprechen, Seite 110)


Die Erzählung als primäre Sinnstiftung
Die Suche nach dem Ursprung der Sprache war bis zum zwanzigsten Jahrhundert größtenteils philosophisch und anthropologisch spekulativ, wie etwa bei Rousseau und den deutschen Romantikern. Vom Altertum her kennen wir vielleicht Mythen über den Anfang der Sprache. In den letzten zwanzig Jahren aber hat die Suche nach dem Ursprung der Sprache große empirische Fortschritte gemacht, so daß wir heute eine angesehene Anzahl von Werken haben, die auf verschiedene Weisen ihre mannigfachen Thesen verteidigen. Eine der besten Zusammenfassungen der gegenwärtigen Forschung findet sich in einem Buch der Australierin Christine Kenneally unter dem Titel The First Word (Das erste Wort), das 2007 veröffentlicht wurde.

 

Ich will heute nicht auf den Stand dieser Forschung eingehen. Vielmehr beziehe ich mich heute auf die jüdische Tradition, so wie sie vom Mystiker und Autor Friedrich Weinreb im letzten Jahrhundert hier in Zürich neu vermittelt wurde. Friedrich Weinreb, 1910 in Lemberg, dem heutigen Lviv in der Ukraine geboren und 1988 in Zürich gestorben, war ein begnadeter Erzähler in der chassidischen Tradition, der mit seinen Vorträgen tausende von Zuhörern in die Geheimnisse der biblischen Sprache einführte. Er betrachtete den jüdischen Tenach (für Christen das Alte Testament) und das Neue Testament als zwei Herzkammern eines und desselben göttlich inspirierten Blutkreislaufs und erschloß ihre Tiefen mit dem, was er «das alte Wissen» nannte. Damit meinte er die mündliche Thora, den Talmud, die Mischna, die Midraschim und die Kabbala. Das Zentrum seines Wirkens war seine Liebe zum Wort, zur Sprache, die er einmal so zusammengefaßt hat:

 

Mich fasziniert das Wort als solches. Die Sprache in ihrer
Vielfältigkeit ist für mich ein Wunder, dessen Quelle ich
behutsam suche, mit Sorgfalt, zart und liebevoll suche, denn
das finden verspricht mir, mich damit erst selber zu finden. Und
ist das nicht die Hauptsache und der Sinn des Lebens
überhaupt?
(Weinreb, Leiblichkeit, Seite 13)


Um unseren Zugang zum Thema «Jüdische Überlieferung vom Ursprung und Wesen der Sprache» besser zu verstehen, muß ich zuerst einige Paradoxe hervorheben, die sich bei jeder Besinnung über das Wesen der Sprache ergeben. Da ist erstens einmal die Tatsache, daß alle Reflexionen über die Sprache sich innerhalb der Sprache vollziehen. Für Friedrich Weinreb war die Sprache etwas Allumfaßendes, so etwa im Sinne von Wittgenstein, der den berühmten Satz geprägt hat: «Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt» (Tractatus Logico-Philosophicus, 5.6). Wer aber Grenze sagt, spricht zugleich das an, was jenseits der Grenze ist, selbst wenn dieses Jenseits nicht sagbar ist. Denn die Sprache ist auf Polaritäten aufgebaut.

 

Weinreb war geistesverwandt mit Sprachphilosophen, für welche die Sprache am Anfang aller Sinnstiftung steht, wie etwa der spätere Wittgenstein, Heidegger, Rosenstock-Huessey, und Liebrucks. Denn es ist die Sprache – und für Weinreb war es besonders die hebräische Sprache – die uns alle Unterschiede und Bedeutungsschichten vermittelt, mit denen wir in der Welt Sinn und Unsinn strukturieren. Das ist doch auch der Sinn des Mythos von der Namengebung durch Adam, der sein Gott-gleichen dadurch bezeugt, daß er wie Gott durch sein Sprechen eine sinnvolle Welt entstehen läßt. Im Anfang war das sinn-stiftende Wort. Und das Wort war Gott (Joh 1, 1).

 

Aber die Sprache gibt uns nicht bloß alle Begriffe und Unterscheidungen, sie kleidet diese Unterscheidungen auch in Erzählungsformen, welche den Sinn in der Form von Drama und Spannung lebendig erhalten und womöglich vertiefen. Solche Erzählformen müssen nicht bewußt sein, meistens vollziehen sie sich stillschweigend in unseren halbbewußten inneren Monologen, in denen sich unser Alltagsdenken und -handeln abspielt. Von Kindheit auf wächst so in uns ein inneres Gewebe von Erzählungen, die zusammen so etwas wie eine allgemeine Weltsicht enthalten, obwohl auch diese meistens nicht voll bewußt ist, sondern wie die Spitze eines Eisbergs nur teilweise ins Bewußtsein hineinragt.

 

Dennoch ist das wenige, das wir von unserer allgemeinen Welteinstellung wissen, im allgemeinen genug, um sie in großen Zügen zu skizzieren. Als Beispiel stelle ich einmal Sigmund Freud und Weinreb einander gegenüber, einerseits weil beide viel vom Traum hielten und die Traumwelt überhaupt eine Schlüsselposition in ihrem Werk hat, und andererseits weil beide auf verschiedene Weise die Welt der Mythen im alltäglichen Leben entdeckten. In bezug auf eine seiner fundamentalen Sinnstiftungen erzählt uns Freud zum Beispiel in mehreren Büchern, daß Gott eine Illusion sei, die sich für manche Menschen tröstlich auswirken könne, aber auch viel Leiden verursache. In Weinrebs Werk hingegen ist Gott das letztlich Wirkliche, das, was als erster und letzter Grund unserer Existenz ihr einen glücklichen Sinn verleiht.

 

Wir dürfen uns fragen, woher diese beiden verschiedenen Grunderzählungen stammen. Man erkennt in Freud leicht den Empiriker, einer, der letztlich nur physisch Wahrnehmbares als Realität annimmt. Und Weinreb kann sicher eine Art Transzendentalist genannt werden - in Mangel eines besseren Wortes - also einer, dem die innere Welt des Traumes und der Bibel symbolisch ein andere Welt offenbart, die ebenso wirklich ist wie die physisch zeiträumliche Welt, die aber nur subjektiv erfahrbar ist. Sind solche Unterschiede bloß Manifestationen eines verschiedenen Temperaments oder steckt da mehr dahinter? Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Ich weiß nur, daß solche fundamentale Unterschiede tief mit der jeweiligen Lebensgeschichte des Individuums verbunden sind.

 

Ich will bloß wiederholen, weil es für ein Verständnis von Weinrebs Spracherlebnis wichtig ist: Es gibt in einem absoluten Sinne keine Metasprache, also keine Sprache, welche die Sprache als Objekt vor sich hätte und sie wissenschaftlich analysieren könnte. Es gibt keinen aussersprachlichen Ort. Alles Aussersprachliche ist uns schon durch die Benennung sprachlich vermittelt. Wenn wir also mit all unseren Sprachanalysen uns immer schon innerhalb der Sprache befinden und nie aus ihr herauskommen, dann ist alles Studium der Sprache eine Innenansicht. Weil wir keinen außersprachlichen Standpunkt haben, kommt die Sprache nie als Objekt vor uns in den Blickpunkt. Etwas ähnliches geschieht auch bei allen Untersuchungen über das Bewußtsein. Solche Untersuchungen ergeben keine objektiven Resultate, wie wissenschaftlich sie sich auch immer geben mögen, sondern Innenansichten, die nur aufgrund des Bewußtseins möglich sind. Sie setzen also immer schon voraus, was sie erklären möchten. Es ist eine petitio principii, eine Art Erschleichung, ein Kreisen im Schon-vorausgesetzten.


Die Doppelnatur der Sprache
Zu den erwähnten Paradoxen gesellt sich noch der Umstand, daß die Sprache in einem semantischen Doppelraum lebt. Einerseits artikuliert sie den Sinn im Rahmen unserer zeiträumlichen Erfahrung. Nehmen wir als Beispiel das Wort «nah». Seine Referenz läßt sich wissenschaftlich messen als objektive Beziehung zwischen physischen Objekten. So sagen wir zum Beispiel daß ein Haus nahe an einem Fluß ist. Nun ist es aber frappant – und anscheinend war es von allem Anfang schon immer so –, daß die Sprache die gleichen Worte benutzt, um etwas Unsichtbares und letztlich Nicht-meßbares auszudrücken. So kann ich einer Person nahestehen oder sogar Gottes Nähe spüren ohne sie messen zu können. Wir können uns fragen, warum benutzt die Sprache das gleiche Wort, um zugleich etwas physisch Meßbares, wie eben die Nähe zwischen zwei Objekten, und etwas Unsichtbares, wie die Nähe Gottes oder eines Gedankens, auszudrücken? Ist es nicht deshalb, fragt zum Beispiel Weinreb, weil unser Erleben sich immer sowohl im zeiträumlich Meßbaren wie im geistig Unsichtbaren abspielt?

 

In diesem Zusammenhang scheint mir interessant, daß im Hebräischen das Wort für Sprache, safa, auch «Ufer» bedeutet. Weinreb schreibt:

 

»Sprache» heißt hebräisch «safa». Das gleiche Wort bedeutet
auch «Ufer». Die Sprache ist ja gleichzeitig die Grenze zweier
Welten: einer Welt, wie immer sie sein möge, und unserer Welt,
welche uns in Raum und Zeit erscheint. Die andere Welt, die
nicht raumzeitliche, wollen wir für unsere Auseinandersetzungen
die Welt des Wesens, die wesentliche Welt nennen. Das
Wesentliche äußert sich in unserer Raum-Zeit-Welt als ein
Verhältnis, als ein Nebeneinandersein von mehr oder weniger.
Die Symbolik der Bibelsprache, Seite 71


Die Sprache bewegt sich im Strom unserer Zeiterfahrung also zwischen zwei Ufern. Eine ist diesseits der Zeitgrenze, linear strukturiert, uni-direktional, und die andere ist jenseits der Zeitgrenze, metaphorisch, übertragen. Die übertragene Sprache ist der Ausdruck unseres doppelten Wohnens im Sinnlichen und zugleich im Übersinnlichen.
Schon Kant hat diese zwei Seiten der Sprache – und in der Sprache natürlich die zwei Seiten des menschlichen Geistes – klar unterschieden, indem er dieses jahrtausendalte Thema als «Doppelbürgerschaft» beschrieb. Einerseits sind wir den Naturgesetzen unterstellt, also heteronom, und ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wir sind ein Bündel von Atomen, Neuronen, und Genen, relativ kurzlebig und ständiger Bedrohung und Vernichtung ausgesetzt. Kant nennt diese unsere heteronome Seite auch unseren «empirischen Charakter». Aber wir haben auch eine andere Seite, eine autonome Seite, wo wir uns selbst bestimmen mit unserem freien Willen und mit Ideen, die weit über die Naturgesetze hinausgehen. Kant nannte diese Seite unseren «intelligiblen Charakter».

 

Es gibt demnach zwei Arten von Biographien, die sich im einen und demselben Subjekt treffen, eine empirische und eine übersinnliche. Diese zwei Seiten sind voneinander sehr verschieden, ergänzen aber einander. Sie sind verschieden, weil die empirische Seite meiner Lebensbeschreibung zeitlich und räumlich begrenzt ist und sich wissenschaftlich messen und beweisen läßt. Die autonome Seite aber hat als ihren Ursprung in der unbeweisbaren Idee, daß wir frei handeln und denken können. In diesem Bereich unserer Erfahrung spielt sich Unberechenbares ab, aber im Allgemeinen spüren wir uns dort als nicht den Naturgesetzen unterworfen und bestimmen uns selbst, wie eben im moralischen und religiösen Bereich.

 

Die gleiche Doppelseitigkeit stellen wir auch bei der Sprache fest, besonders bei der biblischen Sprache. Kierkegaard schreibt darüber:

 

Alle menschliche Sprache über Geistiges, ja, sogar die göttliche
Sprache der Heiligen Schrift ist wesentlich übertragene oder
metaphorische Sprache. Das entspricht ganz der Struktur der
Dinge und der menschlichen Existenz, denn obwohl der Mensch
von Geburt an Geist ist, wird er sich dessen erst später bewußt,
und deshalb lebt er zuvor auf sinnlicher Ebene. . .Diese erste
Phase des Lebens dient dann dem Geist als Basis für die
Übertragung. Deshalb sagen der geistige Mensch und der
sinnliche Mensch in gewisser Hinsicht dasselbe. Dennoch
besteht aber ein unendlicher Unterschied zwischen dem, was
sie sagen, weil der sinnliche Mensch keine Ahnung vom
Geheimnis der übertragenen Sprache hat, obwohl er die
gleichen Worte benutzt, aber nicht metaphorisch. Ein
ungeheurer Unterschied tut sich auf zwischen den beiden, weil
der eine auf die andere Seite hinübergegangen ist oder
irgendwie hinübergeführt wurde, während der andere auf dieser
Seite stecken geblieben ist. Dennoch gibt es etwas
Verbindendes zwischen den beiden – weil sie die gleiche
Sprache sprechen. Ein vom Geist Aufgeweckter verläßt deshalb
die sichtbare Welt nicht. Obwohl er jetzt bewußt Geist ist, ist er
noch immer in der Welt des Sichtbaren und ist selbst sinnlich
sichtbar. Auch seine Sprache ist die der sinnlichen Welt, aber
sie ist nun übertragen.
(Der Liebe Tun, Seite 199)


Als Beispiel zitiert Kierkegaard den folgenden Satz: «Die Erkenntnis macht aufgeblasen, die Liebe dagegen baut auf» (1 Kor 8, 1). Was heißt hier «aufbauen»? Jeder weiß, schreibt Kierkegaard, was «bauen» gewöhnlich heißt. Wie sollen wir aber dieses «aufbauen» als Metapher verstehen? Kierkegaard widmet der Antwort auf diese Frage ganze zehn Seiten. Liebe ist erbaulich, sagen wir, sie weckt das beste Begehren in uns. Doch was heißt wiederum «aufwecken», wenn es auf das Geistige übertragen wird? Sobald wir uns auf das andere Ufer der Sprache hinüberfahren lassen, sind wir in einem Land, das zugleich ganz nah und doch unendlich fremd ist. Es ist dort schwierig zu sagen, was wir überhaupt meinen. Unser inneres Jenseits ist verwirrend.

 

Sind wir einmal auf die durchgängige Metaphorik der Sprache aufmerksam geworden, beginnen wir wirklich in zwei komplementären Welten zu leben, und dies ist sehr wichtig für ein Verständnis, nicht nur von Weinrebs Werk, sondern von der Bibel im allgemeinen. Weinreb wies gerne darauf hin, daß das Wort für «Arche» bei der Erzählung von Noachs Arche, im Hebräischen auch das Wort für «Wort» ist. Dieser Umstand ist für ihn ein Anlaß, die Erzählung metaphorisch zu erleben, also als «Hinübergetragener» in eine andere Bedeutungswelt.

 

Wenn die Arche für das Wort steht, dann ist doch Gottes Aufforderung an Noach, alle Lebewesen in das Wort Gottes zu stellen, eine Einladung zur Erlösung aus der Überflutung, der Sintflut. «Wasser», auf hebräisch majim, ein Dual, steht in der Bibel immer, unter anderem, für den Zeitstrom, der für jeden Menschen im sicheren Tod endet. Die Arche, das Wort Gottes, rettet uns also aus der Aussichtlosigkeit der Zeit, indem sie uns auf festes Land bringt. Sobald die Arche zum Wort wird - wie das im Hebräischen der Fall ist - ist es ganz natürlich, daß dort die ganze Welt Platz hat, und zwar von jedem zwei, denn die Sprache vollzieht sich in begrifflichen Differenzen, wie Saussure hervorgehoben hat. Und wenn Wasser zum Symbol der Zeit wird, dann befinden wir uns innerhalb des Wortes Gottes «über» dem Wasser, über der Zeit, und werden so jenseits der Zeit im Ewigen verankert. Auch für das «Kästchen», in welches Mose als kleines Kind auf dem Nil ausgesetzt wurde, braucht das Hebräische das Wort «tewa» (2. Mose 2, 3). Das Kind Mose wird also in das Wort hineingelegt und durch das Wort vom Tod in der Zeit errettet.


Die Welt der biblischen Ursprache
Wir kommen nun zur hebräischen Ursprache als biblische Sprache. Sie besteht aus 22 Konsonanten, die, wie das kabbalistische Buch Jezirahervorhebt, von Gott selbst geformt wurden. Die jüdische Überlieferung spricht nicht von Buchstaben, sondern von Zeichen, auf hebräisch oth, was auch «Wunder» bedeutet. Die Konsonanten sind Urbilder, «Schreie aus dem Nichts», wie Weinreb betont, weil es das Nichts drängt, sich im Sein auszudrücken. Als Zeichen verkörpern sie in der Welt der beständigen Bewegung eine Welt der Ruhe und bewirken so die Einheit dieser zwei Welten. Weinreb schreibt:

 

Das Hebräische spricht nicht von Lettern oder Buchstaben. Weil
es Zeichen sind, können sie das, was hier ist, von einer andern
Welt aus deuten. Die Zeichen sind schöpferisch; sie haben
Formen und als diese Formen vermögen sie Urbilder, Urformen
zu sein. Jedes Zeichen hat seinen Namen, und diese Namen
formen die Begriffe des Seins. Mit ihnen kommt die Bedeutung.
Ohne diese Zeichen wäre alles zusammenhanglos, schal und
sinnlos.
(Weinreb,Wunder der Zeichen, Seite 17)


Die Elementarzeichen der Sprache, die wir gewöhnlich Buchstaben nennen, sind somit Fragmente aus dem Nichts. Die jüdische Überlieferung erzählt, daß sie sich als schwarzes Feuer auf weißem Feuer konsolidieren. Für Weinreb sind die schwarzen Zeichen auf dem weißen Blatt «Zeichen eine Ehe zwischen Diesseits und Jenseits»:

 

So wird in alten Erzählungen kundgetan, was die Zeichen der
Schrift sind. Sie sind Zeichen, so wie alles, was hier erscheint:
seien es Bäume oder Flüsse, Pflanzen oder Tiere. Jedes
Erscheinen ist dann scharzes Feuer auf weißem Feuer,
Mitteilung aus der Welt, welche der unseren gegenüber steht,
Mitteilung aus dem Nichts. Erregend, erschütternd wirkt dann
die Andeutung, daß das hebräische Wort for Nichts, ajin, mit den
gleichen Buchstaben geschrieben wird wie das Wort Ich, das
ani lautet. Sind also alle Zeichen, welche ich wahrnehme,
schließlich Mitteilungen aus meinem Selbst? Das Wunder der
Zeichen wäre dann ein Staunen über mich selbst. Fürchtet man
sein Ich wie diese merkwürdige Welt das Nichts?
(Weinreb, Wunder der Zeichen, Seite 7)


Die 22 hebräischen Konsonanten sind nicht bloß Buchstaben, sondern hieroglyphische Zeichen aus einer andern Erlebniswelt, die dem Traum gleicht. Ich werde sogleich ein Beispiel davon geben. Halten wir noch fest, daß ursprünglich im Hebräischen nur die Konsonanten geschrieben werden, nicht die Vokale. Die Konsonanten betrachtet man als den Körper der Sprache, die Vokale als den unsichtbaren Geist (hebräisch ruach) und in der Betonung beim Sprechen, in der Melodie, sieht man die göttliche Seele (hebräisch neschama). Die neschama ist der göttliche Atem, den Gott dem Menschen bei seiner Erschaffung einhaucht. Neschama hat nur der Mensch, nicht das Tier. Und dank der neschama haben Menschen die Gabe der Sprache, mit deren Hilfe sie all das tun können, was Ludwig Wittgenstein «Sprachspiele» genannt hat. Das menschliches Leben ist, wie Jacques Lacan hervorgehoben hat, durch den Signifikanten geprägt. Durch die Sprache erhält der Mensch einen zweiten Ort im Leben, neben dem physischen Ort erhält er einen metaphysischen Ort. Dem sagt man dann «Standpunkt» oder «Standort». Wiederum nennt dasselbe Wort einen Ort in verschiedenen Welten. Man kann aber den Ausdruck «Sprachspiel» auch so interpretieren, daß dabei der Mensch selbst zum Spiel der Sprache wird, das heißt, er ist so verwickelt in das Gewebe des Signifikanten, daß er, wie es der Strukturalismus betonte, mehr konstruiert wird als daß er selbst konstruiert.

 

Auf alle Fälle wird ersichtlich, daß der Mensch durch die Sprache in die Gegensätze der sprachlichen Semantik hineingezogen wird, also in die Unterschiede wie Leben und Tod, Anfang und Ende, Sein und Nichts. Er muß sich da irgendwie zurechtfinden. Dabei ist es charakteristisch für die jüdische Überlieferung, daß es bei der biblischen Sprache hauptsächlich um den Gegensatz von Gesetz und Liebe geht. Die sichtbaren Konsonanten repräsentieren die Seite des Gesetzes, die unsichtbare Vokale die Seite der Liebe.

 

Der Eintritt des Kleinkindes in die Welt der Muttersprache kommt einer Taufe gleich, die ihm einen Ort im Symbolischen gibt, also einen Ort im Sinnzusammenhang der Sprache. Diese Taufe durch die Sprache ist eine Wesensverwandlung und wird oft durch das Essen verbildlicht. Weinreb schreibt darüber folgendes:

 

Wenn den Kindern die Buchstaben, die Schriftzeichen gelehrt
werden, gibt es im Jüdischen einen Brauch, die Form des neu
gelernten Buchstabens als süßes Gebäck zu backen und
obendrein noch mit Honig zu bestreichen. Dann ißt das Kind
das Zeichen auf, verleibt es sich ein, es wird Teil seines Selbst.
Eine Art Pädagogik, die lehrt: Du kannst den Menschen dem
Wort näherbringen, wenn es süß ist. Und das gilt nicht nur für
das Kind von vier oder fünf Jahren, dem man die Zeichen zu
lehren anfängt, sondern auch überhaupt: Das Kind im
Menschen mag gern lernen, daß das Leben süß ist.
(Weinreb, Die sieben Prophetinnen, Seite 80-81)


Weinreb zitierte oft das Bibelwort, daß das Wort Gottes uns ganz nahe ist, in unserem Munde und in unserem Herzen. Wîr müssen es nicht weit weg suchen. Es ist uns mit der Sprache gegeben, und die köstliche Einverleibung der Konsonanten als «Guetzli»- Buchstaben, will nicht nur besagen, daß damit etwas Süßes in unser Leben kommt, sondern auch, daß wir durch die Sprache ernährt werden im Hinblick auf das, was wir soeben die neschama genannt haben, die göttliche Sehnsucht, die in uns lebt.

 

Weinreb zitierte oft das Bibelwort, daß das Wort Gottes uns ganz nahe ist, in unserem Munde und in unserem Herzen. Wîr müssen es nicht weit weg suchen. Es ist uns mit der Sprache gegeben, und die köstliche Einverleibung der Konsonanten als «Guetzli»- Buchstaben, will nicht nur besagen, daß damit etwas Süßes in unser Leben kommt, sondern auch, daß wir durch die Sprache ernährt werden im Hinblick auf das, was wir soeben die neschama genannt haben, die göttliche Sehnsucht, die in uns lebt.

 

In der jüdischen Überlieferung sind die Buchstaben des hebräischen Alphabets mit unerschöpflichen Assoziationen versehen. Davon nur eine Kostprobe anhand der ersten zwei Konsonanten, dem Alef und der Beth. Nach Weinreb (Traumleben IV, S. 167) bedeutet der Buchstabe Alef mit dem Zahlenwert eins die ursprüngliche Einheit des anochi, des Ichs. Alef ist still, hat keinen Laut, ist nur ein Hauchen, ein tiefes Schweigen, eine Einsamkeit. Aus diesem ewigen Schweigen heraus wird die Schöpfung gebaut, in der Beth. Beth heißt auf hebräisch «Haus» und ist der zweite Buchstabe des hebräischen Alphabets. Sie hat den Zahlenwert zwei. Die Eins will lieben, und sie kann dies nur in der Zwei. Das aber besagt Bruch, Auseinanderfallen, Verlassenheit, Exil, Tod - aber auch Einswerden, Vereinigung, Glückseligkeit. So entsteht das Wort ab «Vater». Das Wort ab eröffnet eine assoziative Innenwelt mit einer Bewegung vom Alef in das Beth, von der Eins in die Zwei (ab). In der Intimform abba gehts zugleich auch wieder von der Zwei zurück in die Eins, von der Beth zurück ins Aleph, in die Auferstehnung, ins Einswerden. Die ersten zwei Buchstaben enthalten also eine ganze Mythologie. Das Wort «Vater» (abba) enthält nebst der Schöpfung in der Zwei schon die Rückkehr in die Eins. Wir können hier an das Gleichnis vom Verlorenen Sohn denken. Der Rückweg aus dem Exil zum Vater ist schon im Namen des Vaters enthalten. Deshalb heißt es in der jüdischen Überlieferung, daß das Alef und die Beth das ganze Alphabet enthalten, das heißt alles, was überhaupt sagbar ist.

Friedrich Weinreb schreibt dazu:

 

Gott opfert seine Einheit, indem er sich spaltet, sich trennt,
könnte man sagen, in ein Diesseits und ein Jenseits. Und damit
fängt der Weg der Einswerdung an. Aus tiefstem Elend, aus
größter Verlassenheit führt der Weg zur Einswerdung. Ein Weg
des Kennenlernens, der Gespräche, der Mißverständnisse
auch, ein Auf und Ab, ein Schenkenkönnen und ein
Beschenktwerden. Und das ist - merkwürdig genug - die
Grundlage des Leids. Denn man läßt seine Eins, seine Ruhe,
seine Totalität eigentlich zerbrechen, das ist das Opfer.
(Weinreb, Die Freuden des Hiob, Seiten 293-294)


Der Traum vom Anfang der Sprache
Ich komme jetzt zum Anfang der Sprache. Hier kommt es darauf an, daß man sieht, wie in allen Fragen des Anfangs schon immer die Sprache vorausgesetzt wird. Denn wenn wir überhaupt solche Themen wie Anfang und Ende haben, wovon es auch immer sei, so ist dies sicher durch die im Begrifflichen verankerte Sprache gegeben, die uns solche Polaritäten gibt wie Anfang und Ende, Gut und Böse, Begrenztes und Unbegrenztes. Wie ich schon erwähnt habe, setzt jedes Gespräch über den Anfang der Sprache die Sprache schon voraus.

 

Der zweite und für unser Thema noch wichtigere Punkt ist folgender. Gerade weil wir die Sprache in allen unseren Sprachanalysen schon immer voraussetzen, ist es ungemein wichtig, den rechten Sprachbegriff zu haben, denn je nachdem kommen wir zu ganz anderen Anfängen. Aber was ist der rechte Sprachbegriff? Hier scheiden sich die Geister. Für die jüdische Überlieferung hat die Sprache eine Außenwelt und Innenwelt. Sie ist die Brücke zwischen diesen zwei Welten und trägt den Sprecher von der einen in die andere Welt hinüber. Das Wort dafür ist «Metapher».

 

Wenden wir uns deshalb jenen Autoren zu, welche die Doppelnatur der Sprache nicht nur anerkennen, sondern gerade in ihrer metaphorischen Dimension das eigentlich Einzigartige erblicken, wie zum Beispiel Herder, A.W. Schlegel, Vico und Nietzsche. Sicher eines der originellsten solcher Werke in dieser Hinsicht ist die Neue Wissenschaft (Nuova Scienza) von Giambattista Vico (1668-1744). Er geht von der Annahme aus, daß die Sprache gleich zu anfang, wo immer sie entwicklungsgeschichtlich auftauchte, eine hieroglyphische und dichterische Sprache war, das universale fantastico, das metaphorische Erlebniswelten vermittelte. Seiner Ansicht nach ging aber das symbolische Erlebnis der sprachlichen Zeichen im Laufe der Zeit verloren, so daß wir Modernen ein zwar technisch reicheres aber symbolisch ungemein verarmtes Sprachverständnis haben.

 

Nun gibt es eine ganze Reiche von sprachphilosophischen Ansätzen, von den indischen Veden über den Taoismus zu den buddhistischen Sutras und den Schriften Platons, in neuerer Zeit auch die deutschen Romantikern wie Herder, Hamann und Novalis, die von der metaphorisch-symbolischen Dimension der Sprache ausgehen und infolgedessen den Ursprung der Sprache in der Dichtung sehen. Für dieses jahrtausendealte Denken wird der Anfang der Sprache am besten mythologisch formuliert. Hamann, zum Beispiel, wie Vico vor ihm, sieht in der dichterischen Natur der Sprache ihren eigentlichen Anfang. Schon gleich zu anfang hatte die Sprache alltägliche und sakrale Funktionen. Eine dieser dichterischen Funktionen war es, von ihrem Ursprung zu erzählen. Es gibt also eine alte Tradition der Reflexion über den Ursprung der Sprache, zu der auch die jüdische Überlieferung gehört, die sich den Ursprung der Sprache erträumt. Kurz gesagt: der wahre Anfang der Sprache ist im Traum der Sprache selbst zu suchen. Die mythische Dimension der Sprache gehört innerlich zum Erlebnis ihres Ursprungs.

 

Nun muß ich sofort einschalten, daß damit der historisch-wissenschaftlich Zugang zum Ursprung der Sprache nicht ausgeschaltet ist. Ganz im Gegenteil, die wissenschaftlichen Fortschritte, die in den letzten zwanzig Jahren in Bezug auf den historischen Ursprung der Sprachen gemacht wurden, sind zu bewundern und zu unterstützen. Sie sind aber, wenn es bei der wissenschaftlichen Methode bleibt, einseitig, weil sie ein reduziertes Sprachverständnis benutzen. Eine integrale Auffassung der Sprache sieht in ihrer Metaphorik das innere Geheimnis der Sprache. Deshalb setzt sie den Anfang des Wortes ins Wort: «Am Anfang war das Wort. . .» Die Frage nach dem Anfang der Sprache ist somit eine Angelegenheit des Mythos, der nach dem Evangelisten Johannes den Beginn aller Dinge in das Wort stellt, in den Logos, eine Logos-Mythologie also, oder vielleicht besser gesagt: der Anfang wird in den Traum des Wortes gelegt. Am Anfang war der Traum des Wortes. Das Wort träumt vom Anfang wie es auch vom Ende träumt. Es träumt aber vor allem von der Ewigkeit. Es kann gar nicht anders, denn für jeden Anfang gibt es ein Vorher und für jedes Ende gibt es ein Nachher. Das Wort träumt von Einem, der alle Zeit, wie Rilke sagt, in seinen sanften Händen hält. Letztlich und ursprünglich ist die Geschichte des Wortes immer eine Mythologie, ein Traumgeschehen vom Überzeitlichen, Ewigen. In der jüdischen Überlieferung finden wir diesen Traum hauptsächlich in der Kabbala, und dort besonders im Buch Sohar und in der lurianischen Kabbala.

 

Und damit sind wir plötzlich im Herzen des alten jüdischen Wissens, von dem her Weinreb sich den Anfang der Sprache erträumt. Zu Beginn, so heißt es im Buch Sohar, ist das Unbegrenzte, auf hebräisch en sof. Und aus diesem Unbegrenzen heraus entstehen spontan die ersten zwei Worte als Fragen: mi?, wer? und ma?, was? Diese Worte sind zwei Urworte, aus denen ein Sprecher und ein Gesprochenes entstehen. Ein Wer spricht ein Was. Gott spricht die Welt.

 

Was dürfen wir von diesem Traum vom Anfang der Sprache behalten? Erstens einmal die Tatsache, daß in diesem Traum der Ursprung der Sprache mit dem Ursprung der Idee Gottes in Beziehung gebracht wird. Das hat auch Giambattista Vico so gesehen, der in den Grabsteinen die ersten Zeichen der menschlichen Sprache erkannte und den Ursprung der Sprache mit Friedhöfen korrelierte. Es war für ihn frappant, daß nur menschliche Kulturen Grabsteine und Sprache haben.

 

Dann ist aber beim kabbalistischen Traum auch das bemerkenswert, daß uns das ursprüngliche Unbegrenzte, das en sof, als ein Sprechen vorgestellt wird. Wir haben am Anfang die Idee des Unendlichen als ein Sprechen, ein Sagen. Sodann erscheint das Subjet in der Form einer Frage: Wer spricht hier? und dann als Drittes erscheint das Objekt, auch es in der Form einer Frage: was? Was wird hier gesprochen? Die Sprache spiegelt sich hier selbst in der Minimalform des Sagens und des Gesagten. Jemand spricht, und was er spricht ist die Welt. Die Welt entsteht durch das Wort. Emmanuel Lévinas hat es einmal so formuliert: «Gewiß ist das erste Sagen nur ein Wort, aber es ist Gott.» (Die Spur des Anderen, Seite 294). Gottes Sprechen ist somit die Ursprache, die allen Dingen und auch meinem Sprechen als uneinholbare Nähe innewohnt und nicht in Sätzen ausgedrückt werden kann. Lévinas:

 

Diese Beziehung der Nähe, dieser Kontakt, der nicht in
noetisch-noematische Strukturen umgemünzt werden kann und
der schon das Worin für alle Übertragung von Botschaften ist –
um welche Botschaften es sich auch handele – ist die
ursprüngliche Sprache, Sprache ohne Worte und Sätze, reine
Kommunikation.
(Lévinas, Die Spur des Anderen, Seite 280)


Aus dieser Sprache ohne Worte, aus diesem Schweigen, das alles sagt, kommt die artikulierte Sprache immer schon fragmentiert hervor, denn nur ein Achtel vom Ganzen ist sagbar. Dazu ist noch zu sagen, daß der Ursprung der Sprache im Sohar als Frage erträumt wird, denn wir kommen eigentlich nie aus dieser Frage heraus. Gleichzeitig postuliert die Frage aber eine Antwort, also ein Gegenwort. Das Sagen ist gleich am Anfang dialogisch.

 

Einer der originellsten Wort-Träumer in der jüdischen Überlieferung, Isaac Luria (1534-72), erzählt in diesem Zusammenhang die Legende vom zimzum, ein hebräisches Wort für das Sich-verbergen Gottes.Zimzum besagt, daß Gott, um der Welt Platz zu machen, seinen Raum wegschenkt. Er zieht sich zurück, um dem Anderen Platz zu machen. Sein Sagen ist ein Opfer, eine Selbsthingabe um des Anderen willen. Auch Lévinas charakterisiert das ursprüngliche Sagen als radikales Ausgesetztsein an den Anderen. Wir Menschen sind in diesem primordialen Sagen mitenthalten. Wir werden darauf noch eigens zu sprechen kommen. Für jetzt sei nur angezeigt, daß infolge des zimzumder Mensch an der Stelle Gottes steht. Kein Gott ist zu sehen. Der aufklärerische Atheismus seit Feuerbach hat hier eine Rolle zu spielen, er müßte aber noch ein Motiv für die Abwesenheit Gottes hinzufügen, nämlich die Liebe. Gott macht sich zu nichts, damit der Andere lebt. Sprechen ist eine Liebeshingabe, die uns in die Verantwortung stellt. Wir sind aufgerufen, dem Anderen Platz zu machen, indem wir uns selbst zu nichts machen.

 

In der zimzum Erzählung zieht sich Gott in einen null-dimensionalen Punkt zurück. Von diesem Punkt aus entspringt dann die Liebe als ein so starkes Licht vom Unbegrenzten (en sof) her, daß die Gefäße (hebräisch kelim) der entstehenden Schöpfung zu bersten beginnen und zerbrechen. Das betrifft besonders auch die Buchstaben, deren Zahl 22 eigentlich Splitter eines Urwortes sind – eben des Wortes «Gott» –, das als reines Sagen jedem Sprechen vorausgeht und in jedem Sprechen mitenthalten ist, aber nicht gesagt werden kann. Das Zerbrechen der Gefäße (hebräisch schwirath ha-kelim) zeigt sich aber auch in den zehn sefiroth. Eine sefirah ist eine Manifestationsweise Gottes, ein Attribut sozusagen, das mit einem besonderen Namen versehen ist. Sefira, das an das deutsche Wort «Sphäre» erinnert, hat auch den gleichen Wortstamm wie «Buch» und «Zahl», wovon das deutsche Wort «Ziffer» abgeleitet ist. Karl Jaspers prägte das Wort «Chiffre», um die Symbole des transzendentalen Erlebens zu kennzeichnen.

 

Das Zerbrechen der Gefäße ist also im Grunde ein sprachlicher Mythos, aber wiederum im typisch hebräischen Zusammenhang von Wort, Zahl und Sache. Friedrich Weinreb faßte diese Erzählenung, die mit der Schöpfungsgeschichte zusammenfällt, einmal so zusammen:

 

Gottes Absicht bei der Schöpfung, sich zu schenken, bedeutet,
er opfert seine Einheit, damit das Sein überhaupt möglich wird,
und diese Liebe ist so groß, daß sie nicht gefaßt werden kann.
Ein Gefäß, von fassen, wird im Hebräischen «keli» genannt;
zugrunde liegt das Wort «kol», alles; «keli» ist etwas, das alles
umfaßt. Und das Gefäß kann diese große Liebe, dieses
Sich-hingeben nicht fassen. Und weil es das nicht fassen kann,
zerbricht es. Ein Zerbrechen in die vielen Zeichen, auch in die
Buchstaben, die aus einer anderen Welt zu uns kommen, aus
einem Jenseits, aus dem Nichts. Deshalb hat jede Form der
Zeichen eine Grenze, ist jedes Zeichen begrenzt, sonst wäre
alles vom Schwarzen bedeckt, wie alles schwarz wird, wenn ein
Tintenfaß auf einem Stück Papier umfällt.
(Weinreb, Die Freuden Hiobs, Seite 403)


Aus diesem Opfer Gottes her, aus dem Zerbrechen von Gottes Einheit, wird die Welt zum Zeichen (oth), vorab mit den Buchstaben, die in ihren vielen Zusammensetzungen beim Sprechen die Welt wieder zur Einheit zurückführen können. Aber gerade weil Sprache auch immer Sache bedeutet, haben nun alle Dinge in ihren verschiedenen Zusammensetzungen die Fähigkeit, aus ihrer Zerrissenheit erlöst zu werden. Der Mensch, indem er spricht, und sprechend handelt, ist aufgerufen, die Welt zu Gott zurückzuführen. Dieser Prozess wird auf hebräisch tikkun genannt, das Heilen und die Heiligung der Welt. Das ist dann auch der tiefste Grund, warum am Anfang das Erzählen steht. Es befreit den inneren Funken von Gottes Licht, das in allen Dingen steckt und ist unerschöpflich. Weinreb hat das einmal so beschrieben:

 

Deshalb ist das Sein des Menschen nie zu beschreiben, es gibt
dafür keine Worte. Die Worte, die Buchstaben, wie wir sie
benutzen, brechen die Einheit. Man sagt auch: Das Schweigen
wird gebrochen. Das Fassungsvermögen des Menschen
zerbricht, dann fängt er zu reden an, zu schreiben. Gott, heißt es,
macht dieses Gefäß, die Welt, die Menschen. Das Gefäß
zerbricht, und die Scherben, das sind die Buchstaben. Und das
Leben ist die Sehnsucht, die Buchstaben in vielen, vielen
Geschichten zusammenzufügen: erzählt, erlebt, geschrieben,
geträumt, daß sie wieder eins werden. Wenn ich in meinem
Leben alles zusammenfüge, habe ich die Liebe gefaßt und
erfaßt – aber nur zusammengefügt. Wenn ich es erzählen
müßte, wie ich es getan habe, müßte ich wieder reden und das
bedeutet, es zerbricht wieder.
(Weinreb, Die sieben Prophetinnen, Seite 214)

 

Das Wunder von Wort, Zahl und Sache
Wir sahen, als wir vom Alef und von der Beth sprachen, wie die Zahlen 1 und 2 nicht nur in der jüdischen Überlieferung, sondern in der weltweiten Philosophiegeschichte im allgemeinen, Anlaß zu tiefen Spekulationen gegeben haben. Wohl darum finden wir im Wort «erzählen» das Wort «Zahl» – und nicht nur im Deutschen –, sondern auch in anderen Sprachen. Zahlen geben viel zu erzählen, und dies ganz besonders, wenn die Sprache selbst, wie das beim Hebräischen der Fall ist, ein Sprachspiel der Zahlen ist. Dazu kommt noch, daß eines der hebräischen Termini für «Wort», nämlich dabar, zugleich Wort und Sache bedeutet. Auch die Dinge stecken für den Hebräer voller Zahlen, die dann im Dreieck «Wort-Sache-Zahl» den Reichtum der sprachlichen Einfälle noch potenzieren. Die Praxis ist als Gematrie bekannt. Davon möchte ich nun einige Beispiele geben Fangen wir an mit dem schon erwähnten Wort tewa, das zugleich «Arche» und «Wort» bedeutet. Wir haben schon erwähnt, daß die Arche als Wort die ganze Schöpfung in sich trägt, von jeder Spezies zwei, männlich und weiblich. Also auch hier wiederum die Idee, daß die Schöpfung mit der Zahl zwei zu tun hat. In der Bibel werden die Maße der Arche angegeben: 300 Ellen lang, 50 hoch und 30 breit. Wenn man die Zahlen zusammenzählt erhält man 380 was dem Zahlenwert für das Wort «Sprache» ergibt, auch Zunge, hebräisch laschon. Man sieht hier innere Zusammenhänge: die Arche ist das Wort, ihr Maß ist die Sprache. Die Sprache enthält und rettet die ganze lebende Schöpfung aus dem Untergehen in der Zeit. Weinreb schreibt dazu:

 

Noach «baut an der Sprache mit den Maßen, die Gott ihm gibt.
Und so entsteht etwas, das alles in sich faßt. Denn in dieses
Wort, in die «teba» , kommt alles Leben hinein. Und, so heißt es,
wenn das alles bewahrt bleiben soll, dann ist das nur dadurch
möglich, daß es von dieser Welt in die andere Welt geht. Eine
Verbindung zwischen der einen und der anderen Welt ist nur
dadurch möglich, daß man alles im Wort faßt, aber auch wirklich
alles. Laß nichts draußen, das Männliche und das Weibliche,
heißt es, alles muß hinein.
(Weinreb, Vor Babel, Seite 267)


Mit der Zahl-Wort-Sache Assoziation soll also das biblische Innenleben gefördert werden, dessen Früchte sich dann im Alltag zeigen können. Ein weiteres Beispiel ist das hebräische Wort für «Kuh». Darüber schreibt Weinreb:

 

Nehmen wir zum Beispiel das Wort «Kuh», im Hebräischen
»parah» oder «phar» (20-200) – vielleicht hat unser Wort «Färse»
noch damit zu tun – dann sagt dieses Wort durch seinen
quantitativen Ausdruck (80-200) etwas über das Wesen der Kuh
aus, so wie über das Wasser durch die Form H2O ewas
Wesentliches ausgesagt wird. Man sieht dann z.B. auch, daß
das Wort Pharao vom Begriff Kuh abgeleitet und ein Ausdruck
davon ist. Wenn der Pharao von diesen Kühen träumt (1. Mose
41), dann ist das kein sozusagen landwirtschaftlicher Traum,
sondern der Pharao träumt von sich selbst, von etwas, das er
selbst ist. Und wenn sich dann noch herausstellt, daß auch die
Worte «Frucht» und «Fruchtbarkeit» etwas damit zu tun haben,
dann sieht man doch wesentlich mehr, schon im Äußeren der
Dinge, als man unserem Wort Kuh ansehen kann. Dieses Wort
sagt uns im Deutschen nichts mehr. Ursprünglich schon, aber
jetzt nicht mehr.


Die Zahlenmystik der hebräischen Buchstaben, so meint Weinreb, steigert also die Innenschau der Worte, ihre Zusammenhänge und Übertragungen in andere Welten: von der Kuh zum Selbst zur Welt des Hebräers, des iwri, der vom Jenseits her kommt. Dazu jetzt noch ein anderes Beispiel aus dem biblischen Schöpfungsbericht. Die 6 Tage der Schöpfung werden in 434 Worten berichtet. Der Zahlenwert 434 aber ist der Wert des 4. Buchstabens des Alphabets, der Daleth, was wörtlich «Türe» heißt. Dieser Zusammenhang wird wiederum so ausgelegt, daß die 6 Schöpfungstage zusammen die Tür bilden, um zum 7. Tag, dem Sabbath, zu gelangen, also zum Ruhetag, der die Welt der ewigen Vollkommenheit symbolisiert. Dies besagt aber auch, daß die Welt, in der wir gegenwärtig leben, sich in einem Verhältnis von 4 : 1 befindet, wobei 4 die Totalität dieser unserer sichtbaren Welt bedeutet und die 1 ihre Vollendung in einer höheren Welt der Vollkommenheit. Diese Struktur von 4 : 1 durchzieht die ganze Bibel.

 

Zum Beispiel, die Zahl 4 steht auch für die 4 Welten der Schöpfung, die durch 4 Verbannungen gehen muß. Wir befinden uns in der untersten dieser 4 Welten, der Welt des Tuns (olam assia). Weinreb schreibt darüber:

 

Aus dem Verborgenen – der Sphäre bei Gott, in der
Überlieferung «aziluth» genannt, d.h. noch bei Gott seiend – wird
sie (die Schöpfung) geboren und kommt in die vier Welten, die
vier Reiche. Zuerst war sie in der «kether», über der «aziluth»
sozusagen. Sie kam dann in die «aziluth», danach in die «briah»
und die «jezira» und schließlich in die «assia». Durch vier
Verbannungen hin entsteht die Schöpfung. Es kommt also eine
Entblößung, auch eine Geburt, ein Sichtbarwerden. Deshalb hat
das Wort Daleth, die «Vier», auf der Schöpfungsgeschichte
basiert – 434 Worte –, auch mit «toled» (434), Geborenwerden,
Sichtbarwerden zu tun. Vier bedeutet «Sichtbarmachen». Deshalb
kennen wir auch die vier Erzmütter: Sarah, Rebekka, Rachel und
Lea. Es sind vier, weil durch sie die Geburt kommt.
(Weinreb, Vor Babel, Seite 184-185)
(Weinreb, Vor Babel, Seite 18)

 


Der Weg zum Ich
Als wir vom Ursprung der Sprache im Sohar sprachen, fanden wir als erste Worte die Fragen mi? und ma?, wer? und was?. Die beiden Fragen begründen innere Wege zu den zwei Polen der Welterfahrung, dem Subjekt und dem Objekt, oder, linguistisch ausgedrückt, dem Sprecher und dem Gesprochenen.

 

Wie steht es mit dem Sprecher? In einem gewissen absoluten Sinne gibt es nur einen Sprecher und das ist Gott. Durch die Schöpfung läßt er aber unzählige Kreaturen daran teilnehmen, und da die Schöpfung im Wort geschieht, müssen wir wiederum auf die Doppelwelt der Sprache zurückkommen. Wir haben gesehen wie die Sprache eine diesseitige und jenseitige Welt eröffnet und dabei zugleich dafür sorgt, durch die Übertragung, das die Sprecher von einer Seite des Ufers an das andere hinübersetzen können.

 

Das Ich des Menschen wohnt also zugleich in zwei verschiedenen Welten, und eine der vielen Aufgaben der Sprache ist es, den Weg vom Ich in der zeiträumlichen Welt zum Ich in der wesentlichen Welt freizulegen und zu ermöglichen. Wir haben gesehen, daß das Ich im rein Irdischen vom Kaufmännischen geprägt ist. Dies entspricht in der Bibel dem Kanaaniter, was auf hebräisch «Kaufmann» heißt. Deshalb auch die Aufforderung, den Kaufmann in uns zu vertreiben. Das Ich im Wesentlichen aber ist das Ich, das ganz dem Anderen ausgesetzt ist, sich wegschenkt. Es ist das Ich der Hingabe, des Glaubens, der Liebe. Weinreb schreibt:

 

Und diese beiden (Welten) sind nicht isoliert voneinander da.
Vielmehr ist die Welt erschaffen worden, damit es fortwährend
den Weg von der einen zur anderen gibt. Wie der Weg im
Tempel auch ein ständiges Gehen und Zurückgehen ist. Wie es
sich auch in den Funktionen des Lebens – des Herzens, des
Atems – als Hin und Her ausdrückt. Wie alles in der Welt als
Schwingung erscheint, als Auf und Ab, als Hin und Her – eben
nicht nur eine Richtung. Das Gesetzmäßige erhält seinen Sinn
gerade erst dann, wenn es mit dem Anderen zusammentriftt,
wenn es zur Ehe kommt. Auch das Andere allein ist nichts, es
muß diese Konfrontation sein, diese Verbindung zustande
kommen.
(Weinreb, Wort, Sprache und Sprechen, Seite 223-224)


Nun ist es bedeutsam, daß im Zeiträumlichen das Ich für sein Überleben sorgen und sich vor Angriffen verteidigen muß. Dem Gegenüber ist das Ich im Ewigen ein Abgrund, ja, ein Nichts. Im Hebräischen wird das Wort für Nichts mit den gleichen Buchstaben geschrieben wie das Wort für Ich. Weinreb schreibt:

 

Das Wort für Nichts ist im Hebräischen «ajin» 1-10-50, das Wort
für Ich «ani», 1-50-10. «Ich» wird also mit den gleichen
Buchstaben geschrieben wie «Nichts», nur in anderer
Reihenfolge. Das Ich des Menschen enspricht also diesem
tiefen Abgrund. Der Mensch fürchtet, daß sein Ich im Tod
untergeht. Er möchte es doch gern behalten. Und es bleibt nicht
nur erhalten, sondern bekommt auch noch sein volles Ausmaß.
Nicht nur, daß ihm alles klar wird und zu ihm zurückkehrt, was er
je erlebt hat – sogar in seiner Erbmasse erlebt hat von früheren
Generationen –, sondern auch noch eine Seite jenseits dieses
Seins, jenseits der Schöpfung. Gott steht jenseits der
Schöpfung. In der Welt der «aziluth», die «nahe bei» Gott, «im
Schatten» Gottes ist, dort schon ist Gott. Schrecklich ist das
Nichts für den Menschen, weil er an Melodie nicht zu glauben
wagt. Deshalb ist das Lied so wichtig, die Melodie im Sprechen,
im Verhalten. Weil er daran nicht glaubt, hat er Angst bekomen,
und diese Angst kann man ihm eigentlich nur nehmn, wenn
man ihn auf dieses Nichts hinweist. Dort is die Wurzel von
allem.
(Weinreb, Wort, Sprache und Sprechen, Seite 241)


Der Weg vom irdischen zum wesentlichen Ich geht also durch das Nichts. Im Verhalten kommt das durch die Liebe zum Ausdruck, die sich «umsonst» wegschenkt, zu nichts wird, damit der Andere sein kann.


Der sprachliche Leib
Die deutsche Sprache kennt einen Unterschied zwischen Körper und Leib, der in Weinrebs Sprachverständnis eine wichtige Rolle spielt. «Körper» ist eine Eindeutschung des Lateinischen corpus, und «Leib» leitet sich ab vom altdeutschen «lib», die gemeinsame Wurzel von Wörtern wie «leben», «lieben», «loben», «laben» und «leiben». Heute verstehen wir unter Körper ein physisches Objekt; der Leib hingegen ist der von unserem Inneren her erfahrene Körper. Der Arzt, zum Beispiel, kann unseren Körper nur von außen her behandeln, selbst wenn er ihn öffnet. Jeder von uns aber erfährt ihren oder seinen Körper von innen her. Das ist dann die Leibeserfahrung. Davon kann immer nur in der ersten Person erzählt werden. Es handelt sich also um zwei Welten im selben einen Körper, die den zwei Welten der Sprache entsprechen. Als nur-Körper ist er von außen als Quantität beobachtbar und sezierbar, als Leib ist er nur vom jeweiligen Selbst her als Qualität erfahrbar. Weinreb hat diesen Unterschied von der Bibel her noch vertieft. Die vom Selbst her erfahrbare metaphorische Innenwelt des Leibes hat mit dem Wunder der Sprache zu tun, die deshalb besonders geeignet ist, uns das Geheimnis des Leibes erahnen zu lassen. Hier ist es wiederum unbedingt notwendig, das metaphorische Wesen der Sprache zu bedenken. Deshalb möchte ich dazu wiederum ein paar Grundsätze aus Weinrebs Werk zitieren. Wenn wir unseren Körper von innen her erfahren, ihn also nicht quasi-wissenschaftlich beobachten, müssen wir darauf achtgeben, daß Worte sich auf verschiedenen Bedeutungsebenen bewegen. Weinreb schreibt:

 

Das Wort besitzt die eigentümliche Fähigkeit, daß es in den
Wirklichkeiten verschiedener Ebenen existieren kann. In jeder
Wirklichkeit führt es ein anderes Dasein. Die Bilder, die das in
einer Wirklichkeit lebende Wort herbeiruft, sind Symbole,
Gleichnisse jener Bilder, die in einer anderen Wirklichkeit
existieren.
(Weinreb, Die Rolle Esther, Seite 36)


Im Unterschied zum Körper nährt sich unser Leib von Ideen, vom Wort. Er lebt «von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt» (5. Mose 8, 3). Ich will dies an einem Beispiel der Bibel illustrieren, nämlich dort, wo Jesus von seinem Leib spricht. Er hat soeben den Tempel von Händlern gereinigt und man will von ihm ein Zeichen haben. Der Evangelist Johannes gibt seine Antwort folgendermaßen wieder:

 

Reißt diesen Tempel nieder, und in drei Tagen werde ich ihn
wieder aufrichten. Da sagte die Juden: Sechsundvierzig Jahre
lang hat man an diesem Tempel gebaut und du willst ihn in drei
Tagen wieder aufrichten? Er aber meinte den Tempel seines
Leibes.
(Johannes 2, 20-21)


Das Jesuswort vom Leib als Tempel macht offenbar, daß Körper und Leib sich zueinander verhalten wie Bild und Sinnbild oder wie Wort und symbolische Übertragung des Wortes. Der Leib entspringt aus der Liebe zum Wort.
Die Erfahrung des Leibes ändert zwar radikal die Welterfahrung, aber für den Körper ändert sich nichts. Deshalb gibt es auch beim Leib nichts zu beweisen. Äußerlich bleibt alles beim Alten. Wissenschaftlich sind wir ein Bündel Materie. Innerlich aber, durch die Liebe zum Wort, wachsen wir in die Unendlichkeit des Wortes und spüren, das Sagen, das in uns spricht, kann nicht gesagt werden. Allem Gesprochenen unterliegt das Schweigen des Sagens, die Ruhe des Sabbaths.

 

Die jüdische Überlieferung unterscheidet im Inneren des Wortes vier Schichten, die sie mit den Worten pschat, remes, drusch und sodbezeichnet. Pschat ist die einfache Erfahrung des Wortes in all seinen Zusammenhängen, die sich wie ein Netzwerk über alles Sagbare ziehen. Solche Assoziationen finden wir im Hebräischen im Netzwerk von Stamm, Zahl und Sache. So zeigt zum Beispiel das Zeichen Alef mit den zwei Jod, die durch eine Waw verbunden sind, wie eine Hieroglyphe die obere und untere Welt der sprachlichen Erfahrungen.

 

Als zweite Wortebene finden wir remes, das heißt, ein Wink oder eine Spur von etwas, das als Anderes dem Wort innewohnt. Die Griechen nannten dies «Allegorie», was wortwörtlich «etwas anderes sagen» bedeutet. Zum Beispiel das Zeichen Alef, weil es unhörbar ist, wird in der jüdischen Tradition als eine Spur des tiefen Schweigens erlebt, das alles Sprechen durchwaltet und beim Schreiben als Lücken zwischen den Buchstaben visuell erscheint.

 

Wenn wir uns weiter dem Innern des Wortes öffnen, finden wir die Ebene des drusch, das heißt, wie midrasch, die Welt des Erzählens, des Weiterträumens des Wortes in uns. Diese Quelle ist unerschöpflich. Es würde wohl in keine Bibliothek eingehen, was im Laufe der Jahrhunderte alles über das Alef geschrieben wurde, angefangen vom hellenisierenden Philo über den mittelalterlichen Sohar bis in unsere Zeit mit Buber und Jorge Luis Borges. Um vom drusch ein Beispiel zu geben, hören wir kurz was für eine Geschichte Weinreb vom Alef erzählt als dem Ursprung der Sprache:

 

Im Zeichen Alef, dem ersten, sind die beiden Jods, welche die
beiden Flanken einnehmen, getrennt oder verbunden durch das
Waw, das Zeichen «sechs», mit dem Namen «Haken» im Sinne
von Klammer oder Verbindung. Vom Zeichen Waw heißt es
auch, daß es den Menschen in seiner idealen Form, in der
Paradiesform vorstellt. Es ist der Mensch des sechsten Tages,
des Freitags, des Zustands vor dem Bruch, vor der Teilung in
zwei. Der Bruch aber ist die von Gott vorbestimmte Zubereitung,
damit der Weg der Einswerdung begangen werden kann. Der
Freitag bringt diesen Bruch. Und dann öffnet sich der Weg, die
Bewegung im Sinne der fortwährenden Veränderung der
Zustände, wobei die Erzählung entsteht von A bis Z, vom Alef
bis zum Taw.
(Weinreb, Wunder der Zeichen, Seite 20)


Wie gesagt, drusch ist unerschöpflich und gehört zur mündlichen Thora, das Weiterträumen vom geschriebenen Wort durch die Jahrhunderte. Die Erzählungen haben dann auch meist Szenen oder Ereignisse, die man nicht versteht, die aber nach Walter Benjamin gerade das andauernde Interesse schüren. Diese dem Sinn widerstehenden «Knoten» beim Erzählen sind eigentlich ihr innerster Kern, der sodgenannt wird, «Geheimnis». Beim Zeichen Alef, zum Beispiel, ist es so, daß es da Erzählungen gibt, die in diesem Zeichen einen umgestürzten Stierkopf sehen. Und damit ist eine Geschichte verbunden, die im Grunde unmöglich anmutet, wie eben viele Geschichten, nicht nur in der Bibel und der jüdischen Traditionen, sondern in allen literarischen Überlieferungen der Weltreligionen. Der Name «Alef» bedeutet «Kopf», genauer ein Stierkopf, denn nach dem alten Wissen wird diese Welt, in der wir leben, im Zeichen «Stier», taurus, erschaffen. Aber dieser Stier birgt ein Geheimnis. Weinreb schreibt:

 

Dieser Stier, der aus tiefster Weisheit dem ersten sich
zeigenden Zeichen den Namen gibt, hat eben ein
grundlegendes Geheimnis. Nur Haupt und ein Teil des
Rumpfes sind sichtbar. Er wird aus der Mutter geboren. So
erfahren wir ihn, mit seinem Hinterteil immer verborgen. Nur
zwei seiner drei Teile sind zugänglich. Sein letztes Drittel und
seine Herkunft bleiben ein Rätsel. Das ist auch der Grund,
warum dieses erste Zeichen, dieser erste Ruf aus dem
Jenseits, aus dem Nichts, nicht artikuliert werden kann. Alef
schweigt.
(Weinreb, Buchstaben des Lebens, Seite 22)


Die Welt wird im Zeichen des Stiers erschaffen, warum wissen wir nicht. Zudem wissen wir immer nur ein Drittel von diesem Kampf. Wir wissen auch, daß dem Stier ein Lamm vorausgeht, aber auch dies wir nur auf geheimnisvolle Weise im wehrlosen Lamm sichtbar, dessen Blut uns aus der ägyptischen Gefangenschaft erlöst.

 

Wir sehen, je tiefer wir Einlaß bekommen in die Innerlichkeit des Wortes, desto geheimnisvoller wird das Erzählen, desto näher kommt die Welt des Erzählens zu Gott. Die jüdische Überlieferung gruppiert die soeben besprochenen vier Ebenen des Wortes, pschat, remes, druschund sod als Anagramm zusammen, woraus sich aus den Anfangsbuchstaben das Wort PaRDeS bildet, ein ursprünglich persisches Wort für «Garten», wovon wir im Deutschen noch das Wort «Paradies» haben. Die vier Ebenen des Wortes führen den Menschen zurück zum Paradies, zurück zu einem Erahnen der ursprünglichen Vollkommenheit der adamitischen Sprache.


Sprechen und Verhalten
Wir erleben subjektiv unseren Leib mit unseren Gefühlen, Gedanken, Worten oder ganz allgemein mit unserem inneren und äußeren Sprechen. Der amerikanische Philosoph, der in neueren Zeiten die Semiotik begründet hat, Charles Peirce, hat einmal gesagt: «Meine Sprache ist die Totalsumme dessen, was ich bin. Denn der Mensch ist sein Denken» (Peirce 5.314). Dort, in unserem Inneren, entstehen wir täglich, ja stündlich neu in unserem Sprechen über uns selbst und über andere, im inneren und äußeren Dialog, und haben es oft in unserer Hand, ob wir Leben oder Tod schenken. Auch uns selbst schenken wir. Nach jüdischer Überlieferung ist das ganze Drama der Schöpfung in unser Sprechen gelegt. Gerade darin sind und leben wir im Ebenbild und Gleichnis Gottes. Darum spricht Weinreb auch immer von der «Schöpfung im Wort». Wir sterben und werden in der Art und Weise, wie wir voneinander sprechen, was wir von uns selbst erzählen. Am Anfang steht doch, wie wir erwähnt haben, die Erzählung. Die Frage ist nun die: Welche Grund-Erzählung durchzieht unser Verhalten im Alltag?

 

Wir kommen daher zum Schluß wiederum auf den Begriff des tikkun, des Heilens durch das Sprechen. Weinreb hat dies einmal so gefaßt:

 

«Tikkun», ein Begriff, der im Jüdischen oft benutzt wird, bedeutet:
eine Sache verbinden; verbessern, sagt man oft, heilen.
Gemeint ist, daß bei jeder Begegnung mit Gegenständen, mit
Erfahrungen, mit Menschen oder Tieren oder Pflanzen dieser
Funke erkannt wird und überspringt und Einheit schafft. Wenn
du es als Einheit erkennst und nicht mehr zum Nutzen, dann
entsteht das, was man die Melodie bei dir nennt. Dann bist du
im Lehrhaus des Geheimnisses, dort erfährst du es aus dir
selber. Es sprudelt hervor, und du freust dich, daß du selbst am
Brunnen stehst, der dein Körper, dein Leib ist; daß es
hervorkommt, daß es sich spricht, daß es sich baut in deinem
Leben, daß es sich heilt.
(Weinreb, Wort, Sprache und Sprechen, Seite 376-377)


Der Traum der Sprache, den wir besprochen haben, spiegelt sich also in unserem Verhalten. Alles hängt hier wieder zusammen mit dem doppelten Lebensraum der Sprache, innen und außen. Wenn wir anerkennen, daß die Sprache eine Traumseite hat und wenn, wie das bei Weinreb der Fall ist, wir noch zudem glauben, daß diese Traumseite das Wesentliche der menschliche Erfahrung anbietet, dann folgt daraus, daß man von dieser Seite her in die andere hineinlebt. Das Resultat ist ähnlich wie das Verhalten meines achtjährigen Sohnes, der bei allem, was er tut, vorab seine Einbildungskraft lebt. So sitzt er zum Beispiel am Frühstückstisch mit Löffel und Gabel und macht sich daran, zu essen. Es ist aber klar,daß das Besteck inzwischen zu Waffen geworden sind, mit denen er einen imaginären kosmischen Kampf zwischen den Kräften von Gut und Böse ausfechtet. Hinter und über allem sieht seine Einbildungskraft ein Drama, das er von elektronischen Spielen importiert hat und in seinem Alltag anwendet.

 

Nun, finde ich, geht es beim Spracherlebnis ähnlich zu. Wir bewegen uns in allem, was wir tun, immer auch in einem imaginären Erlebnisraum. Wir bewegen uns geistig in manchen Fragmenten von Erzählungen, die unser Innenleben beeinflussen und handeln, halb-bewußt oder nichtbewußt von diesem Horizont her in unseren Alltag hinein. Wenn wir nun beim Fall meines Sohnes die biblischen Geschichten an die Stelle der elektronischen Spiele setzten, können wir dementsprechende Veränderungen im Verhalten erwarten. Dabei verändert sich natürlich vieles, und vieles hat wohl damit zu tun, das Kind in uns zu bewahren und dennoch die vielen Aufgaben des Lebens auf uns zu nehmen. Wir haben kurz von der Zahlenmystik der hebräischen Buchstaben gesprochen. Als mir mein Sohn kürzlich mitteilte, die Zahl Sieben sei eine wunderbare Zahl, machte ich mich gefaßt etwas von der mir bekannten Symbolik dieser Zahl zu erfahren, zum Beispiel die sieben Himmel, die sieben Schöpfungstage oder mindestens Schneewittchen und die sieben Zwerge. Auf meine Frage, wie es denn mit dieser Zahl stehe, sagte er zu meiner Überraschung: «Siehst du, Daddy, wenn ich die Zahl Sieben umkehre, habe ich eine Laser Pistole.»

 

So ändern sich Zeiten und Symbole, die dahinterliegende Wahrheit bleibt aber wohl dieselbe, die darin besteht, daß unser Verhalten von inneren Erzählerlebnissen mitformiert wird. Dies wollen wir nun noch kurz zum Abschluß im Rahmen der jüdischen Überlieferung bedenken. Ich will mich dabei auf das Sprechen konzentrieren. Wie wir gesehen haben, geht die biblische Überlieferung darauf hin, daß wir am Sprechen Gottes teilnehmen. Wenn Gott spricht, dann geschieht, was er sagt. Wir sagen dem «performatives Sprechen» und kennen es vom juridischen Diskurs her. Wenn der Richter Urteile verhängt oder wenn sich Liebende im Zivilrecht das Ja-Wort geben, dann hat das reale Konsequenzen, dann geschieht in der sozialen Wirklichkeit, was in der Sprache geschieht. So ähnlich ist es mit den Rollen, die wir den Dingen, Lebewesen, und Mitmenschen in unserem Sprechen zuerteilen. Von der Bibel her gesehen fließt doch alles aus der einen Quelle, nämlich aus Gottes Sprechen. Erinnern wir uns an die zimzum Legende und an das Zerbrechen der Gefäße. Die Buchstaben, Dinge und Lebewesen sind alles Splitter eines ursprünglichen Ganzen, welches durch unser Denken, Fühlen und Sprechen wieder zurückgeführt werden kann zur Einheit. Unser Sprechen befreit den göttlichen Funken in den Dingen und führt sie an den Ursprung zurück. Von daher können wir verstehen, warum in der Bibel so viel Wert darauf gelegt wird, wie wir vom Anderen sprechen. Es gibt zum Beispiel Jesus-Worte, von Matthäus überliefert, die so lauten:

 

Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst
nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen
sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur
zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder
sagt: Du Dummkopf, soll dem Spruch des Hohen Rates
verfallen; wer aber zu ihm sagt: Du Narr, soll dem Feuer der
Hölle verfallen sein.
(Mt 5, 21-22.)


Hier wird das Sprechen so wichtig genommen, daß es dem gleichgesetzt wird, was in der zeiträumlichen Welt einem Töten gleichkommt. Ich glaube, wir können solche Worte nur vom Metaphorischen her verstehen, also von der neschama, der göttlichen Seele her, die unsichtbar ist, aber in Analogie zum physischen Leben als Quelle des übersinnlichen Lebens, sinnlich gesteigert, spurenhaft erlebt wird. Dort, auf der anderen Seite der Sprache – wir können auch sagen, im Bereiche des Traumes – bewirken Worte, was sie sagen, und die Sprecher haben es in ihrer Hand – oder besser gesagt in ihrem Mund – , die Welt der Sehnsucht zu töten oder zum Leben zu bringen, und zwar auf die Art und Weise, wie sie sprechen. Denn nun sprechen sie die Welt vom Heiligen her und nehmen am göttlichen Sprechen der Welt teil.

 

Ich hoffe, ich habe gezeigt, wie das Sprachverständnis der jüdischen Überlieferung, so wie sie von Friedrich Weinreb dem modernen Verstehen näher gebracht worden ist, alles durchwirkt, angefangen von den Grund-Erzählungen, die dem Leben Sinn verleihen, bis in das kleinste Detail des Alltags, wenn es «hebräisch», d.h. «von drüben» her erlebt wird. Das Verhalten richtet sich nach dem Sabbath, dem heiligen vollkommenen Tag, dem Tag des «Sitzens» bei Gott, der die sechs Tage der Woche heiligt. Der Zaddik, der vom Wort Gottes Aufgerichtete und in ihm Auferstandene, lebt und spricht in beiden Welten, weil sie in der Wurzel des Wortes eins sind.


Literaturhinweise

Kenneally, Christine,
The First Word. New York 2008. Penguin Books

Lévinas, Emmanuel
Die Spur des Anderen. München 1999. Alber Studienausgabe

Peirce, Charles Sanders
Collected Papers. Cambridge, MA 1935-66. Harvard University

Rilke, Rainer Maria
Die Gedichte. Frankfurt am Main 1986. Insel Taschenbuch

Weinreb, Friedrich
Wunder der Zeichen,



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