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Thema

Hier werden wichtige Themen von Autoren beleuchtet, die mit dem Werk von Friedrich Weinreb vertraut sind.

Hören des Wortes: Empfängnis im Ohr



Wenn es um Sprache, um Worte geht, gibt es ein rein äußerliches Hören nicht, denn die akustische Wahrnehmung muß, wohl im Gehirn, gleich irgendwie verarbeitet werden, damit sie ihren Ort in einem Verständnishorizont findet. So meldet sich das Verstehen im Hören. Beim Hören von Worten scheinen sich Wege zu eröffnen, ein Gehen, Füße, die gehen oder stehen, man möchte doch verstehen, was gesagt wird. Das beinhaltet die Verknüpfung des Mysteriums des Hörens mit dem Mysterium des Tuns. Das Verhalten ist demnach die Voraussetzung des Hörenkönnens.Von Christian Schneider (09.09.04).



Wege, Gänge, und dazu noch sehr verschlungene, führen ins Innere des Ohrs. Das Wort, die Botschaft macht sich auf den Weg. Was geschieht, wenn sie schon in der ersten Windung hängenbleibt, in einer Art Standpunkt erstarrt? Warum beharren wir so gern auf unserer Meinung, verteidigen sie gegen alle Angriffe, bauen sie zu kunstvoller Theorie aus? Das Erstarrte zieht uns an. Wenn etwas feststeht, läßt sich darauf aufbauen, und im Gebäude kann man sich dann ein- und ausrichten. Wir haben dann auch Maßstäbe, die gelten, wenigstens eine Zeitlang. Und wir streben doch nach Geltung, unsere ganze Kultur beruht darauf, die Wissenschaft, die Kunst, die Literatur.

Das Bild der Spirale
Der Gehörgang führt tief ins Innere des Ohrs, der Hör-Weg nimmt die Windungen des Schneckenhauses, verläuft spiralförmig. Das Ohr, Empfangsorgan des Wortes, ist von der Spirale geprägt. Dem Geheimnis der Schöpfung läßt sich, wie es Friedrich Weinreb oft gezeigt hat, im Bild der Spirale näherkommen. Die Spirale sammelt unentwegt die Vielheit des Umkreises ein und bringt sie hinauf zur Einheit, über den Punkt hinaus, der sich entzieht, ins Nichts, wo Alles Eins ist. Und zugleich, in einer Bewegung, strömt es von oben herab, verbreitet sich Windung um Windung in unendliche Vielheit.

Auf dem Weg der Schöpfung ist das Ohr und das Hören zentral. Das erzählt auch die 58, der Wert des hebräischen Wortes für Ohr, das sich 1-7-50 schreibt. Die Struktur dieses Wortes, wie sie sich im Aufbau der drei Buchstaben offenbart, zeigt: «Daß das Ohr dazu da ist, um den siebten Tag (also die gegenwärtige Welt, in der wir leben, in all ihrer Vielheit) an die «Eins» zu binden, daß also das Hören ein Hören dieser Verbindung sein muß, und daß es, wie es auch bei anderen Organen der Fall ist, dazu bestimmt ist, den Menschen zum Abschluß der 50 zu bringen, die 50 des achten Tages.» (Friedrich Weinreb, SCHÖPFUNG IM WORT, Seite 496 f)

Der Weg durch die Wüste als Gehörschule Israels
Der Weg der Schöpfung findet auch im Lebensweg des Menschen seinen Ausdruck, wie er sich biblisch als Weg durch die Wüste darstellt. Und da das hebräische Wort für Wüste genauso als Sprechen zu lesen ist, erleben wir auf einer höheren Windung der Spirale unser Leben als Gespräch: Wir hören, aber auch Gott hört; Gott spricht, aber auch wir sprechen – Mund und Ohr eins in der Stimmung. «Herr, erhöre mein Gebet, und laß mein Rufen zu dir kommen», sagt man täglich mehrmals im Stundengebet der Kirche.

Der Weg durch die Wüste ist ein Weg, auf dem es, wie der Bibel zu entnehmen ist, eigentlich ständig um das rechte Hören geht, und auf dem das Nichthören Israels zum immer wiederkehrenden Thema wird. Als Mose dem Volk Gottes seinen Willen, Israel aus der Knechtschaft Ägyptens zu befreien, mitteilt, heißt es: «Aber sie hörten nicht auf Moscheh vor Kleinmut und vor schwerer Arbeit.» (2.Mose 6,9). Am Ende des Weges dann, kurz vor dem Einzug ins Gelobte Land, heißt es: «Und Jehoschua, Sohn Nun, war erfüllt mit dem Geiste der Weisheit, denn Moscheh hatte seine Hände ihm aufgelegt, und es hörten auf ihn die Kinder Israel und taten so wie der Ewige dem Moscheh geboten.» (5.Mose 34,9). Erich Zenger nennt deshalb den Weg durch die Wüste «die große Gehörschule Israels», die Darstellung einer «Metamorphose vom nichthörenden zum hörenden Gottesvolk».

Tun und Hören
Auf das Geschenk der Thora am Sinai antwortet Israel im Menschen mit jenem uns gerade durch Friedrich Weinreb so nahe gebrachten «na-aseh we-nischma»: Alles, was Gott gesprochen, «wollen wir tun und hören» (2.Mose 24,7). Hier verknüpft sich das Mysterium des Hörens mit dem Mysterium des Tuns. Das Verhalten wäre demnach die Voraussetzung des Hörenkönnens. Das Wort erreicht uns nur und wirkt, was es soll, wenn es auf fruchtbaren Boden trifft. Das bekannte Gleichnis vom Sämann in den Evangelien (Mt.13, Mk.4, Lk.8) zielt gerade auch auf unser Verhalten, auf unser Handeln, unser ganzes Tun und Lassen, wenn von der unterschiedlichen Bodenbeschaffenheit die Rede ist.

Dieses na-aseh ruft unwillkürlich das la-asoth in der Schöpfungsgeschichte in Erinnerung. Damit wird die Bestimmung des Menschen auf der Erde ausgedrückt, der Sinn seines Erschaffenseins: «damit er tue, um zu tun», wie eine Übersetzung der Überlieferung lautet, auf die Friedrich Weinreb immer wieder beim Besprechen dieser Stelle (1.Mose 2,3) eingegangen ist. Und die Richtschnur seines Tuns, seines Verhaltens wird dem Menschen im Wort gegeben, beziehungsweise dem Wunder des Hörenkönnens im Ohr.

Stimme Jakobs und Hände Esaus
Hören und Handeln – ein Konflikt im Menschen, der sich biblisch u.a. im Zwillingspaar Jakob/Esau ausdrückt.»Die Stimme ist die Stimme Jakobs», sagt Isaak, «und die Hände sind die Hände Esaus.» (1.Mose 27,22).

Um den Segen zu erlangen, nennt sich die Stimme Esau:«Nach der Umhüllung, nach dem Kleid, nach der Maske. Der Mensch kann in dieser linken Welt den Segen darum auch nur erhalten, wenn er von den Entwicklungskräften des Leibes, so fremd sie ihm auch sein mögen, begleitet wird. Er soll ihnen die Welt für diese Zeit der Entwicklung überlassen müssen, die Zeit, die wir als die in dem Maß 58 ausgedrückte kennengelernt haben. (Sie erinnern sich: das hebräische Wort für Ohr hat eben auch den Zahlenwert 58!) Doch schließlich wird er sie überwinden, er wird die Entwicklung aufhören lassen, und er wird den Leib, frei von diesen Kräften, auf dem Weg der Einswerdung zum Ursprung mitbringen.» (Friedrich Weinreb, SCHÖPFUNG IM WORT, Seite 571f)

Die Umhüllung ist es, die den Kreis bildet, den geschlossenen, so daß kaum mehr zu erkennen ist, daß sich im Innern ein großer Reichtum verbirgt. Erst wenn der Kreis in die Spirale aufbricht, ist die Stimme, das Wort vernehmbar, das Handeln zugleich, wie es eine deutsche Wortbildung nahelegt, das Gehorchen.

Ganz Ohr
Die Aufforderung, der Aufruf: «Höre!» gilt Israel, richtet sich also an Geist und Seele des Menschen. Was den Menschen zum Menschen macht, ist sein Hörvermögen, dadurch lebt er vom Wort, oder, wie Noach, im Wort. Und es lebt dadurch das Wort in ihm. Der Mensch im Bild und Gleichnis Gottes ist vollkommen vom Wort durchdrungen oder, anders ausgedrückt, ganz Ohr. Als Salomo, als der Mensch in Gestalt königlicher Vollkommenheit, erbittet er von Gott ein lew schomea, ein Herz, das hört, ein hörendes Herz. Und diese Bitte um Gehör im Zentrum des Lebens ist eine so große Freude und Überraschung für Gott, daß er ihn mit Geschenken nur so überschüttet, vor allem aber mit Weisheit, chochma, Einsicht und Verstand.(1.Kön. 3-5).

Weisheit zu haben, gilt als das Höchste, was der Mensch erreichen kann. Der Weise erfährt nicht nur in allem, was ihm begegnet, den Sinn der Welt und des Lebens, sondern lebt ihn selbst auch, verkörpert ihn in seinem Handeln.
Der Sinn wird mit allen fünf Sinnen wahrgenommen, keine abstrakte Wahrheit also, keine philosophische Theorie. Daß es gerade fünf Sinnesorgane gibt, ist natürlich kein Zufall. Denn gerade dort, wo es um das Erfassen des Sinns des Ganzen geht, ist ja, wie wir gelernt haben, die Struktur der Eins und der Vier zu erwarten – ein Verhältnis, das sowohl die ganze Welt als auch den Leib des Menschen als Schöpfung im Wort prägt.

Die vier Sinnesorgane und das eine besondere Sinnesorgan
In seinem Buch Der Weg durch den Tempel hat Friedrich Weinreb sehr ausführlich vom Zusammenhang dieser fünf Sinnesorgane mit den Elementen, den Welten, den Exilen, den Phasen des Träumens, den Stufen des Thoralernens und den Schwellen, die beim Gang durch den Tempel zu überschreiten sind, erzählt. Eine Zusammenschau, wie sie im Werk Weinrebs einzigartig ist. Dabei erscheinen das Hören, das Vernehmen und das Ohr in ganz neuem Licht, und die wirklich alles umfassende Bedeutung des Schma, des Höre Israel, nicht nur für das jüdische Gebetsleben, sondern vor allem auch für Geist und Seele als Israel in jedem Menschen, wird in eindringlicher Weise klar - gerade durch die Entfaltung einer Fülle an Beziehungen.

Die Überlieferung spricht nur von vier Sinneswahrnehmungen, dem Riechen, Schmecken, Sehen, Tasten, die den vier Elementen, Erde, Wasser, Feuer, Luft, entsprechen. Das Fünfte schließt sich der Reihe der vier nicht an, ist keine wie auch noch so besondere und hervorragende Fortsetzung, sondern steht als Eins den vier gegenüber, wie der Baum des Lebens dem Baum der Erkenntnis gegenübersteht, oder der Kopf den vier Teilen des Rumpfes, oder der Daumen den vier Fingern – verbunden zwar, aber dennoch getrennt. «Wer nicht hören will, muß fühlen», sagt das Sprichwort. Tatsächlich, abgeschnitten von der Quint-Essenz – «Sie hielten sich ihre Ohren zu», heißt es bei der großen Rede des Stephanus in der Apostelgeschichte (7,57) – ist der Mensch seiner Sinnlichkeit ausgeliefert, verfällt in Brutalität oder in den Rausch ästhetischer Genüsse. Statt hörend sind wir dann hörig, statt frei und königlich, abhängig und versklavt.

Wer in die Sonne schaut, wird blind, wer sein Ohr für Gottes Stimme öffnet, dem wird Einsicht zuteil. Im Hören, das immer auch ein Vernehmen der Stimme Gottes ist, ein Hören des Wortes überhaupt, sind nicht nur alle Sinneswahrnehmungen enthalten, sondern dazu auch noch unendlich gesteigert. Das Hohelied oder die Schriften vieler Mystikerinnen und Mystiker sind dafür ein beredtes Zeugnis. Der Begriff 58, der, wie wir schon gesehen haben, das Hörvermögen ausdrückt, gibt, wie wir es von Friedrich Weinreb gelernt haben, ein Verhältnis aus einer anderen Welt an, nämlich die Erfüllung, die Fülle dieser Welt. Die Erfüllung breitet sich von dort aus, woher das Wort kommt, ist hier mit den Sinnen nicht zu erreichen.

Die schweigende Stimme der Prophetie
Wie der Fluß die Quelle mitführt, verborgen im trägen breiten Strömen, kommt im Wort sein Ursprung mit. Dieses Eins, dem alles entspringt, läßt sich vernehmen:
«Morgen für Morgen weckt er mein Ohr,
damit ich ihn höre wie ein Schüler.
Adonai, der Herr, öffnete mir das Ohr.»
Heißt es bei Jesaja (50,4 u.5). Das ist es, was ihn zum Propheten macht; daraus erwächst das Prophetische im Menschen. Was sich hören läßt, ist eine Stimme ohne Laute,
eine schweigende dünne Stimme – kol demama dakka. Wie sie Elia am Horeb vernimmt, unhörbar und dennoch vernehmbar (1.Kön.19,12). Wenn sich Gott dem Menschen offenbart, dann ist, wie Weinreb betont, «Das Entscheidende die Stille in der Stimme, diese zarte, diese sehr empfindliche Stille, diese Sanftmut in der Stimme.» (Friedrich Weinreb, DIE BEWAHRTE STIMME, Seite 31)

Wie den vier Sinnen das Hören als die Eins gegenübersteht, so steht auch den vier Elementen etwas, das keinen Namen hat, als die Eins gegenüber, das Sein überhaupt, dem alles andere sein Dasein verdankt. Es ist auch die Sphäre, die im Tempel das Heilige vom Heiligen oder das Allerheiligste genannt wird. Dort, jenseits der Spitze der Spirale, gibt es nur Stille, vollkommene Stille. Dort geschieht, was eigentlich gar nicht formulierbar ist, dem man sich nur mit einer paradoxen Andeutung wie Hören im Schweigen nähern kann.

Das Wort öffnet sich
Dieses Vernehmen, eine Art Mutation im Hören, ist gemeint, wenn von Gottes Sprechen am Sinai gesagt wird: «Stimme der Worte hörtet ihr, Gestalt sahet ihr keine, ausschließlich Stimme.» (5.Mose 4,12).

Im Vernehmen beginnt sich das Wort zu öffnen, und es kommt, wie bei der Arche von Noach, alles heraus, was es enthält. Dann erzählt das Wort selbst, teilt sich mit. Dies geschieht im Schweigen, in dem alles ungebrochen, also eins ist.
«Wie das weiße Licht», sagt Romano Guardini, «alle Farben enthält, so enthält das Wort alles, was in der Breite der Welt, in der Länge der Zeit, in der Tiefe der Bedeutungen, in der Höhe der Maßstäbe ausgebreitet liegt.»

Ein Weitergeben, das Überliefern so vernommener Worte im Aussprechen, wodurch das Schweigen gebrochen wird, führt keineswegs zur Aufhebung des Schweigens. Im Gegenteil: Nur dadurch kann Schweigen erfahren und erlebt werden. Es besteht also das Paradox, daß Sprechen notwendig ist, um die Stille zu erfahren.

Im Hören der Überlieferung, könnte man sagen, findet nicht nur die Empfängnis im Ohr statt, sondern zugleich auch die Geburt; wie neu geboren findet man sich in der Welt des Schweigens wieder, ohne daß man Worte entbehren müßte. Ergriffen von der Innenwelt des Wortes, begreift man nun die Gebrochenheit der Außenseite im Geheimnis des Zusammenhangs.

Das ist die Auserwählung Israels in jedem Menschen: Sich so ergreifen zu lassen.

Im Wort, das Himmel und Erde verbindet, steht der Einheit ein unvorstellbarer Beziehungsreichtum gegenüber. Es enthält die Wirklichkeit der Dinge sowie deren Beziehungen untereinander und auch die Bedeutung all dessen für den Menschen – der einzige, der Worte lesen, hören, verstehen und aussprechen kann. Wie aber kann er dem Wort den Inhalt entnehmen? Geht es dabei um eine Art richtigen Schlüssel, um die Tür ins Innere zu öffnen und sich alles, was man dort findet, anzueignen? Eine Art Formel, die mit viel Scharfsinn, Hintergrundwissen und genialem Kombinationsvermögen zu finden ist? Gewiß nicht. Mit solchen Gedanken zu spielen, drückt schon eine Art Abgeschnittensein aus.

Das Entnehmen geschieht vielmehr in jenem Vernehmen, das in seiner Hingabe und Liebe der schenkenden Liebe Gottes im Wort entspricht. Eine «Liebesoffenbarung» nennt der Sohar die Thora.

Empfängnis im Ohr
Dieses Vernehmen hat im Mittelalter fast alle großen Künstler, besonders die Maler, zu bewegenden Kunstwerken inspiriert. Die Darstellung der Verkündigung an Maria galt damals der Darstellung der Geburt Christi als ebenbürtig. «Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geiste», beginnt ein altes Gebet, das die biblische Erzählung des Neuen Testaments unüberbietbar knapp zusammenfaßt. Hören, Zustimmung, Empfängnis und Frucht als ein Vorgang. Marias Ja, der Augenblick der Zustimmung zu Gottes Ratschluß der Erlösung, gilt als Augenblick der Inkarnation. Fausts Worte: «Die Botschaft hör ich wohl, allein, es fehlt der Glaube», drückt die andere Seite dieses Vorgangs aus. Der Zweifel, die Folge der einseitigen Ernährung vom Baum der Erkenntnis, läßt die Botschaft nur noch äußerlich wahrnehmen, der Weg zum Vernehmen ist abgeschnitten.

Es zeugt von einer erstaunlichen Vertrautheit des mittelalterlichen Menschen mit dem biblischen Wort, und vor allem der Innenwelt dieses Wortes, wenn man unter den mittelalterlichen Darstellungen der Verkündigung solche findet, wo ein von Gottvater ausgehender Lichtstrahl das Ohr der Jungfrau trifft und manchmal sogar dieser Lichtbahn ein Knäblein beigegeben ist. Conceptio per aurem, Empfängnis durch das Ohr, ist der typologische Fachausdruck, und der «aufgeklärte» Wissenschaftler lächelt über solcherlei Kuriositäten.

Die Einheit von Sprechen und Hören
Friedrich Weinreb hat sein Sprechen bei vielen Gelegenheiten im Bild des Sämanns gesehen, der die Saat seiner Worte in die Ohren der Zuhörer auswirft, wo sie keimen, aufgehen und Früchte bringen kann, die ihr Leben mit neuer Ernte bereichern. Gern und oft hat er auch die Geschichte von Schimon bar Jochai erzählt, der sich mit seinen Schülern in eine Höhle zurückzog, weil die herrschenden Römer das Thoralernen bei Todesstrafe verboten hatten. Im Aufsatz Lebende Stimme, in dem er seine Vortragstätigkeit charakterisiert und Revue passieren läßt, greift Weinreb diese Geschichte auf:
«Man lebt in einer Verborgenheit vor der Welt wie in einer Höhle, wo der heilige Same, das Wort vom Jenseits, hineingelegt wird, dort keimt, reift, sich umformt und zu neuem Leben hervorbricht. So habe ich unsere Abende, unsere Kurse, Vorträge und Tagungen empfunden. Wie Schimon bar Jochai und seine Jünger von der Welt der harten Naturgesetze verfolgt wurden und sich in ihre Höhle flüchteten, so haben wir uns gefunden. So heißt doch auch das Grab die Höhle, worin das vergangene Leben wie ein Weizenkorn wartet, keimt und heranwächst zu neuem Leben. Neues Leben aus dem alten. So bringt jeder sein voriges Leben mit hinein. Das ist die Vorbedingung für jedes Neue. Es ist eine Treue zum Vorigen. Es war niemals umsonst, es brachte Saat nach seiner Art, nicht nach der Art eines anderen Lebens. Und aus dieser Saat wächst neues Leben heraus. Es gibt keine Adepten, keine Mitglieder, es gibt die Einheit von Sprechen und Hören. Wer beziehungsvoll spricht oder hört, erfährt schon ein geordnetes Denken, ein zusammenhängendes Welt - und Lebensbild. Es ist vielschichtiger, durchweht vom Atem des Ewigen.» (Friedrich Weinreb, DIE BEWAHRTE STIMME, Seite 47-52)

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(© 2004, Christian Schneider)

Christian Schneider hat sich als Autor und Herausgeber der Bücher von Friedrich Weinreb intensiv mit Weinrebs Werk auseinandergesetzt. Er ist Verleger des Thauros Verlages.



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