Weinreb Stiftung

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«Dass das Gute sich wohlfühlt…»



Friedrich Weinreb war ein Chronist seiner Zeit und seiner selbst sowie eine Erzähler  der Bibel und der jüdischen Überlieferung, der Kabbala. Er verbrachte die letzten fast 20 Jahre in Zürich, wo er am 19. Oktober 1988 verstarb. Als «Kabbalist von Zürich» war er unermüdlich als Erzähler unterwegs. Eine Würdigung. 



«Wer bin ich, fragen Sie? Ich weiss es nicht. Ich weiss höchstens, dass ich auf dem Weg zu mir bin und dass ich dann sehr überrascht sein werde. Und ich weiss nur, dass ich mich sehne, mit allem, was lebt, in Beziehung zu stehen. Dass das Gute sich wohlfühlt, weil es die Ewigkeit kennt. Und dass das Böse, das grosse Geheimnis, von Gott gerichtet wird und aufhört, das Böse zu sein» – lässt Friedrich Weinreb den Rebbe von Lelow in einer seiner rund 100 chassidischen Geschichten sagen. Eine treffende Selbstcharakteristik.

 

Sein Herz bei der chassidischen Tradition

Friedrich Weinreb lebte ein ungewöhnliches Leben im gewöhnlichen Allltag. 1910 in Lemberg geboren, kam er, kaum vierjährig, nach Holland. Nach dem Studium der Ökonomie und Statistik wurde er knapp 30jährig Professor. Nach den Kriegswirren folgten Lehrtätigkeiten in Rotterdam, Jakarta, Kalkutta und Ankara, wo er als Dekan und Rektor amtierte. Als Experte für Entwicklungsfragen arbeitete er später bei den Vereinten Nationen in Genf. Zahlreiche Bücher und Publikationen auf dem Gebiet der mathematischen Statistik und der Konjunkturforschung fanden reges Interesse. Sein Herz als Chassid gehörte aber der Überlieferung. Die letzten fast 20 Jahre verbrachte Weinreb in Zürich und erzählte immer unterwegs unermüdlich aus diesen Quellen.

Stets der Welt zugewandt, drückte Weinreb seine Einsichten in die Zeit und in das menschliche Verhalten als Folge seiner eigenen, der chassidischen Herkunft treuen Lebensweise aus. Er wohnte in der Zeit, aber im Bewusstsein einer anderen Welt, die rational nicht zu fassen ist. Von dieser Gewissheit getragen, erzählte er als Chassid Geschichten längst vergangener Zeiten und der unmittelbaren Gegenwart. Die Zeit war für ihn aufgehoben und wiedergefunden im Verborgenen des Menschen. Von dort schöpfte er die Kraft seiner Worte, von dort kam ihm jederzeit die Erinnerung im Wort. Er zwang dabei die Worte nicht in ein Schema, war fern jeder Rechthabereit, obwohl er als Wissenschafter diese Welt der zwingenden Klassifizierungen auch kannte. Er sprach von der Kabbala, indem er deren Inhalt in die Sprache der heutigen Zeit übersetzte.

 

Kriegserlebnisse  

Sein literarisches Werk ist ohne seine Erlebnisse im 2. Weltkrieg nicht zu denken. In den Kriegswirren erlebte er als Jude, dass die Wirklichkeit in jedem möglichen und unmöglichen Sinne phantastischer sein kann als der Traum. Als einzelner setzte er sich für die verfolgten Juden in Holland ein und wurde, da ein einzelner das in Kriegszeiten nicht tun darf – so das offizielle Urteil – nach dem Kriege selber zum Verfolgten. Wer im Kriege sich nicht für die Verfolgten einsetzte, brauchte einen Sündenbock. Das wurde er für viele Holländer. Dass einer, der als Jude selber verfolgt wurde, dabei noch umsonst handelte, ohne Nutzen oder Gewinn daraus zu ziehen, das war den meisten unverständlich.

In seinen autobiographischen Erlebnissen aus der Kriegszeit, unter dem Titel «Kollaboration und Widerstand» in Holland erschienen (demnächst auch auf Deutsch: «Die langen Schatten des Krieges») erzählt er den Krieg von sich, von seinem Ich aus: Nur selber kann man Verantwortung übernehmen, sie lässt sich nicht delegieren. Das lebte er zeit seines Lebens. Dagegen wird der Mensch in der Rolle des Zuschauers mitleidlos, er lässt geschehen, was ihn nicht persönlich angeht. Das dreibändige Werk wurde mit einem holländischen Literaturpreis der Stadt Amsterdam ausgezeichnet und im positiven Sinne ein Ego-Dokument genannt.

 

Fern vom Muster des Helden und Abenteurers

Wie man den Krieg ohne literarische Zaubertricks, in einer meist schlichten, oft knappen Ausdrucksweise schildern kann, ohne das Muster des Helden und des Abenteurers, lauter dem eigenen Erleben gegenüber, erzählt Weinreb in dem soeben erschienenen Buch «Die Haft». Er erzählt, wie er die Nachkriegswirren überlebte, dabei selbst zum Opfer endloser Ermittlungen aus verdrängten Schuldgefühlen wird. Doch in der Haft erlebte er als Überraschung die Schöpfung im Worte. Eine neue Welt des Wortes ging ihm auf. Er schrieb Tausende von Seiten und erzählte in der Zelle, wo Verfolger und Verfolgte zusammensassen, von den überlieferten Worten aus der chassidischen Überlieferung und aus seiner eigenen Überlieferung aus dem Verborgenen. Er erzählte ohne Ressentiment den eigenen Peinigern gegenüber, trotz allem Geschehen versöhnlich.

Von dieser Welt handelt sein Werk von über 25 deutschsprachigen Büchern. Seine Hoffnung,        

zu jedem Monat ein Band mit der biblischen Bedeutung der Zeit zu jedem Tag zu schreiben, erfüllte sich ihm nicht. Vier Bände mit den Sinnzusammenhängen aus der Überlieferung und einer chassidischen Geschichte zu jedem Tag konnte er beenden. Alle zwölf Monate zu erzählen blieb ihm versagt. Doch die Zeit und das Wort waren für ihn ohnehin ein Geheimnis. Wenn auch nicht im Zeitlichen, so erfüllen sie sich ihm im Ewigen.

Dr. H. Ringger /Tages Anzeiger, 28. Oktober 1988



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