Weinreb Stiftung

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Archiv

Seit dem Tod von Friedrich Weinreb im Jahre 1988 veranstaltet die Friedrich Weinreb Stiftung jeweils im November auf der Insel Reichenau eine Gedenktagung zu Themen in Weinrebs Werk. Einen Einblick in die Themenvielfalt der letzten Jahre vermitteln die Einführungstexte ins Tagungsthema von Dr. Heini Ringger.

2018
«Das Göttliche im Alltag»

Ein Augenaufschlag, der Alltag beginnt, die Augen fallen zu, der bewusste Alltag endet. Dazwischen unzählige Augenblicke – kaum zu zählen. Morgens ist man froh, abends oft müde, in der Mitte des Tages zweifelt und verzweifelt man, hin und wieder ist man heiter. Unablässig strömen die Gedanken und Gefühle. Alles fliesst, auch unsere Stimmungslagen sind stets im Wandel, getrieben von Ängsten, befruchtet von Freuden. Leben ist immer, was jetzt passiert, ob passend oder unpassend. Jeder Augenblick erzählt uns unser Alltagsleben.

Doch: Was ist ein Augenblick? Wann beginnt er, wann endet er? Und: Wer erzählt uns diesen Augenblick? Ein Augenblick ist nicht messbar. Er hat keine metrische Dimension. Er kennt nicht die Kausalität im Raumzeit-Kontinuum. Er ist einfach, zeitlos, pure Präsenz. Er passiert. Er ist reiner Zufall. Kairos im Griechischen, der Einfall des Ewigen. Einfälle und Zufälle durchkreuzen unseren Alltag zuhauf. Meist unerwartet – oft dramatisch, tragisch, oder komödiantisch. Im Augenblick blitzt das Göttliche Spiel durch. Das, was erscheint, scheint auf, so wie es ist und nicht so wie es nach unseren Vorstellungen sein soll. Der Augenblick entzieht sich unserer Kontrolle. Er gewährt uns aber einen Göttlichen Einblick ins Ewige.

Leben im Augenblick als Alltagskultur? Was wäre das für ein Leben? Um das und nichts anderes geht es bei Friedrich Weinrebs Erzählen. Der Erzähler unseres Lebens ist Gott. Er schenkt uns zahllose Augenblicke, endlose Schöpfungen. Die Augenblicke generieren erfahrbare Kontinuität in unserer raumzeitlichen Welt. Dieses Gefühl der Kontinuität spiegelt uns eine Art Verlässlichkeit vor. So verschwindet die Welt ja nicht gerade wieder. Obwohl das jeden Augenblick passiert. Im Augenblick sind wir in Gott und Gott ist in uns. Das ist die Gnade des Augenblicks – der Blick eines Augenaufschlags. Sie lässt uns das Göttliche im Alltag erleben. Als Überraschung. Gar als Wunder.

Weinrebs Alltagskultur basiert auf der Bibel. Der Mensch ist im Bild Gottes, als Gleichnis Gottes erschaffen. Er ist irdischer und himmlischer Herkunft. Himmel und Erde vereinigen sich in ihm. Er ist eine Ganzheit, im seinem Wesen heilig. Wenn er sich nicht in dieser Einheit erkennt und erlebt, leidet er. Dann leidet er am Tod, an einer Krankheit, am Unrecht, an Vielem. Er leidet unter der Trennung. Daher auch seine Unruhe, wenn ihm eine Spaltung zwischen Jenseits und Diesseits widerfährt. In der Einswerdung kann die Lebensaufgabe und der Lebenssinn immer wieder offenbar werden.

In grossen wie in kleinen Dingen können wir diese Alltagskultur pflegen, indem wir achtsam leben, im Gewahrsein des Ewigen. Dann erzählen uns Menschen und Dinge von selbst, wer und was sie sind. Hören wir einfach hin. «Höre Israel, der Herr unser Gott ist Einer». Mit diesem inneren Hören hören wir die Lieder der Natur und des Kosmos. Das Erzählen wird so zum Gesang - Gesänge ohne Zahl. Alles singt seine Melodie. Lesen wir im Buch der äusseren und hören wir im Buch der inneren Natur. Lese- und Hörzeit sind unsere Lebenszeit. Öffnen wir uns an der diesjährigen Reichenautagung den vielfältigen Perspektiven einer achtsamen Alltagskultur. Das Göttliche im Alltag ist offenbar und zugleich Mysterium. / Dr. H. Ringger

2017
«Das Göttliche Spiel»
Unser Leben – ein Spiel? Sogar ein Göttliches Spiel? Wie leben und erleben wir das Spiel? War am Anfang gar das Spiel? Das Spiel der Buchstaben, der Worte, der Sprache. Die alten Griechen spielten noch mit den Worten. So konnte Heraklit sagen:«Die Weltzeit ist ein spielendes Kind .... des Kindes ist das Königtum». Und bei Plato entspricht das Spielen nicht nur dem Wesen des Menschen, Gott selbst ist der Spieler und der Mensch sein Spielzeug. Spielen ist bei ihm die der Natur gemässe Lebensform. Ja, die Natur selbst spielt – das Spiel Gottes.

Leben ist also weit mehr als nur funktionieren. Leben heisst spielen. Im Spielen erkunden wir uns und die Welt in all ihren Möglichkeiten und sogar Unmöglichkeiten. Angefangen bei den Kinderspielen über die Geschicklichkeitsspiele, Wettkampfspiele, Kultspiele, Schauspiele, Orakelspiele, Glücksspiele bis zu den heutigen Sport- und Gesellschaftsspielen. Spielen befreit und verbindet, es kann aber auch abhängig, süchtig, aggressiv und mächtig machen. Im Spielen erleben wir die ganze Vielfalt der Formenwelten und Ambivalenzen des Lebens.

Der Kosmos als Spiel, die Erde als Spielfeld. Seit je ist das Menschsein mit Spielen gleichgesetzt worden. Das je nach Kultur und Zeit mit Variationen und Nuancierungen. Allerdings hat sich die offene und freie Geisteshaltung auf den Spielwiesen der Neuzeit wesentlich verändert. Die Geister der Ökonomie dominieren die heutigen Spielweisen. Spielen ist fast nur noch ein von wirtschaftlichen Gesichtspunkten abhängiges Geschehen. Als Spielverderber wirken die Geister des Profits und der Macht. Oftmals auch die Geister der Konzepte, der philosophischen, religiösen, politischen Theorien und Systeme. Diese Geister durchdringen im Gewande irgendeiner Deutungsmacht oder Nützlichkeit fast alles. Sie setzen sich fest und lassen das Leben oft in Sinnlosigkeit erstarren.  

Doch Spielen ist weit mehr und anders als uns diese Geister vorspielen. Im Kindsein liegt der Ursprung des Spielens. Und Kinder spielen das Spiel vom Ursprung stets von Neuem. Wieder und wieder. Selbstvergessen geben sie sich hin. Staunend über das, was erscheint, und sich wundernd über das, was erscheint und nicht das ist, als was es scheint. Das sie aber immer sind – ein Göttliches Kind.

Friedrich Weinreb war zeitlebens so ein Kind. Er erzählte staunend von den Wundern Gottes. Das Spiel der Buchstaben, die im Hebräischen zugleich Zahlen sind, erlebte er als Geschenk und als Mysterium der Sprache. Zur Quelle des Erzählens wird ihm der Reichtum der Assoziationen und Verbindungen. Vom Spielen der Buchstaben und Zahlen schöpft er vieles auch aus dem alten, überlieferten Wissen. Von daher konnte er endlos erzählen. So hat sich ihm das Kindsein in seinem Sprechen bewahrt, in dem Wort, Bedeutung und Realität In-Eins fallen. So wird Erzählzeit zur Traumzeit. Zeitlos im Zeitlichen. Einem Göttlichen Spiel gleich. Öffnen wir uns dem Göttlichen Spiel, das den Kosmos stets von Neuem erschafft. Spielen wir die Spiele unseres Lebens. Als spielendes Kind sind wir zeitlebens Neulinge, als Neulinge gehen wir ins Grab. Das Grab, das leer ist – nichts als offene Weite. 

2016
«Gott in mir - Ich in Gott»
Gott – ein Wort, eine Realität, ein Mysterium. Gott in mir und Ich in Gott. Wer sagt die Worte und was sagen die Worte?  Lassen wir sie im Mysterium? Lassen wir uns auf das Geheimnis der Worte ein? Lassen uns die Worte auch in ihr Geheimnis ein? Lassen sie sich als Ich, Person und Leib erleben, gar verstehen?  Sind wir nicht eh schon in Gott und Gott in uns? Nur - ist es uns nicht bewusst? Sagt uns nicht der Johannesprolog: Im Anfang ist das Wort. Und das Wort ist bei Gott. Das Wort ist Gott und das Wort wird Fleisch – Botschaft im Hebräischen. Sozusagen die Mensch- und Weltwerdung Gottes.

Wir leben im Wort und das Wort lebt in und durch uns. Friedrich Weinreb war von dieser Göttlichen Resonanz des Wortes durchstimmt. Sein Erzählen glich einem Göttlichen Spiel inspiriert von den Namen Gottes. Vom Gottesnamen, der unaussprechlich ist. Da er sich in den Dimensionen dieser Welt nicht fassen lässt - Gott ist alles. So gibt es 70, also unzählige Namen Gottes. Ausgesprochen als Ha-Schem, der Name im Hebräischen, der alle Namen enthält. Alle Gottesnamen erzählen wie Gott uns seine Namen im Lehrhaus von Schem und Ewer erzählt. Erzählen sie auch unsere Namen? In der jüdischen mystischen Überlieferung heisst es, die Suche nach dem eigenen Namen, auch nach dem Wer-Ich-bin, sei die Spiegelung der Suche nach den Namen Gottes.

Und was sagen uns die Gottesnamen? Wer ist Gott? Und wie offenbart er sich in seinen Namen? Die spirituellen Meister aller Zeiten laden uns zu einer tieferen Gotteserkenntnis und Gotteserfahrung ein: Gott ist in uns und wir in Gott.  Alles ist in uns, in unserem eigenen Leben anwesend. In unserem Herzen, in unserem Munde. Und wie Paulus sagt:«Ich bin in Christus und Christus ist in mir». Christus ist Gottes Gegenwart in uns.

Im Gegenwärtigsein können die Gottesnamen sehr lebendig sein. In der Stille birgt sich ihr verborgenes Wirken. Auf dem inneren Versenkungsweg kommen sie mit unseren Namen in Beziehung, in Resonanz. Erzählen die Gottesnamen doch vom Heiligen, vom Ganzen. Erzählen sie wie alles Weltgeschehen von dort aus gesehen wird und wie wir das Leben in unseren Namen erfahren.

Wie Gott sich in den Heiligen Schriften und ihren Geschichten erzählt, so wird das Leben eines jeden Menschen miterzählt. Gott spricht und die Welt ist, heisst es im Pentateuch. Er spricht durch alle Welten hindurch. Wenn wir Ohren haben zu hören, so vernehmen wir. So lässt Gott geboren werden und sterben. Er führt in die Verbannung und in die Erlösung. Er verbindet Zeit und Ewigkeit. Alles hat seine Ordnung, seinen Kosmos. Oft ganz anders als es sich in unserem Wissen eingeprägt und in unseren Erwartungen und Vorstellungen eingestimmt hat. Das kann jeder und jede nur selbst erfahren. Jenseitige und diesseitige Verlässlichkeiten gibt es kaum. Allein eine unvorstellbare Offenheit für Überraschungen und Resonanzmöglichkeiten mit ungeahnten Freiheiten. Eine Symphonie des Lebendigen.

2015
«Das Tun umsonst»
Wir leben in einer Welt des Tuns. Dabei kann Tun vieles sein – Existenzsicherung, Obsession, Krankheit, Vergnügen, Existenzkampf und anderes mehr. Tun kann uns auch Klarheit verschaffen, Schönheit offenbaren, Liebe eröffnen, Freude und Einheit erleben lassen. Tun hat viele Qualitäten. In dessen Geschehen bewegen wir uns absichtsvoll wie auch absichtslos. Wir agieren und reagieren. Im Tun verhalten wir uns und darin drückt sich unsere Haltung aus. Sind wir gar, was wir tun? Oder kommt es gar nicht darauf an, was wir tun oder nicht tun? Bleiben sich die Situationen gleich? Wie? Einfach atmen. Das weder absichtsvoll noch absichtslos ist. Das einfach atmet – umsonst, von selbst.

Friedrich Weinreb war ein «Maggid des Tuns». Einer, der das Tun in seiner ganzen Vielfalt und seinen Qualitäten erlebt und gelebt hat. Einer, der tat um des Tuns willen. Einer, dessen tatkräftiges Leben Sinn gestaltete. Dessen Sinn sich aus der unerschütterlichen Stille ergab. Ein Mysterium. Eine Gabe der Gnade - ohne dass er vorgab, dessen Sinn letztgültig zu wissen. Lebenslang erzählte er davon. Vor allem auch in den über hundert chassidischen Geschichten. Erzählungen des Tuns. Auch seines Tuns, in dem immer das Tun Gottes durchscheint. Das, ob absichtsvoll oder absichtslos, letztlich ein Tun umsonst ist. Oft ist es unverständlich in unserem raumzeitlichen Leben und Verständnis.

Überhaupt. Wer und was handelt in unserer globalisierten und digitalisierten Welt? Sind wir es oder sind wir nur Zuschauer der Ereignisse? Wie lässt sich das Tun umsonst, für manche ein Ideal der Liebe, leben? Weinrebs Tun, selbst in Zeiten des Krieges, war seine Antwort. Wir geben mit unserem alltäglichen Tun und Verhalten unsere. Meist ist es ein Ringen, ja ein Kampf. Wie bei Kain und Abel, Jakob und Esau, Aron und Moses. Das biblische Geschehen spielt sich in uns ab. Dessen Gewahrsein kann in der Auseinandersetzung mit äusseren Realitäten innere Räume und Himmel öffnen. Räume, die uns das «Mysterium des Tuns» (so ein autobiographischer Buchtitel Weinrebs) anders erleben lassen. Anders – als verborgenes Wirken Gottes. Liebe nicht als Ideal. Liebe als Gnade.

Wer ist Gott? Wer bin ich? Was ist Liebe? Was ist Gnade? Fragen, deren Antworten sich im Leben von selbst entfalten können. Wobei der Weg nur begrenzt übers Denken und Wissen geht. Gibt es doch unzählige Formen des Wissens. Selbst ein Wissen und ein Verstehen, das frei von Denken ist. Das, sobald es Vielheit generiert, letztlich wieder Unwissen ist. Nichts lässt sich endgültig erklären, erfahren und erzählen. Vorübergehend nehmen wir die Erscheinungen wahr - umsonst. Von selbst wandelt sich dabei Wissen immer wieder in Unwissen und löst sich auf. Was bleibt? Ein Mysterium. Und das Tun umsonst. Gott kreiert die Schöpfung umsonst. Umsonst leben wir. Umsonst sterben wir. Von selbst geschieht alles aus Liebe und Gnade in Gottes Namen: «Ich bin, der ich bin». Bevor ich in diesem Leben war, Bin Ich. Ich Bin das Selbst. Vom Selbst geschieht alles von selbst - umsonst.

2014
«Erzählen - wer ich bin»
Unser Leben erzählt sich in Geschichten. Sie geben unserem Leben Sinn und Würze. Nur: Wer erzählt eigentlich? Und: Was wird denn da alles erzählt? Sind wir wirklich die Erzähler unserer eigenen Lebensgeschichten? Und gleichzeitig die aktiven Gestalter? Oder: Wird unser Leben erzählt und gestaltet? Erzählen die Geschichten uns? Und: Wer ist dieses Ich, das erzählt? Endlose Fragen mit unendlichen Geschichten.

Friedrich Weinreb war so ein begnadeter Erzähler, ein chassidischer Maggid. Einer, dem das Erzählen in den Mund gelegt worden ist. Einer, dem die Geschichten nur so zuflogen. Einer, hinter dessen Geschichten tatkräftiges Leben stand. Und Einer, der sein Leben aus den Gottesnamen lebte. Aus dieser Fülle erzählte er nicht endenwollend vom Leben, wie es sich in unserer Welt, im Kosmos und in uns offenbart.

Geschichten waren für Weinreb Gebete an Gott. Über hundert chassidische Geschichten hat er selbst erzählt und geschrieben. Sie erzählen durch Zeiten und Lebensschichten hindurch vom Wirken Gottes. Trotz dramatischen und komplexen Ereignissen hier enden sie dort – vom Himmel her gesehen – überraschend, einfach und gut. Weinrebs umwälzende Einsicht war: Gott erzählt. Gott erzählt unser Leben in seinen Namen. Gott benennt, was ist, in seinen Gottesnamen. In den beiden Schöpfungsberichten sind es Elohim und Adonaj, das Tetragramm Jod-He-Waf-He. In den Gottesnamen und ihren Erzählungen gestaltet sich unser Leben. Gott selbst offenbart sich in seinem Namen: »Ich bin, der Ich bin».  Geheimnis, Quelle unseres Erzählens: Wer Ich bin. 

Das «Ich des Erzählers» und das «Erzählte Ich» kreieren so laufend unsere Lebenswirklichkeiten. Gott erzählt um des Erzählens willen. Im Gewahrsein sind wir dessen Zeuge und im Tun-Umsonst zeugen wir davon. «Gott und Ich sind Eins», sagt Meister Eckhart. Die Gottesgeburt in Christus ereignet sich nach Eckhart stets in der Geburt des Wortes. Worte Gottes erzählen uns unser Leben in der Wahrheit Gottes. Die Wahrheit ist an die Eins, an die Einheit gebunden. Zeitlich entfaltet sie sich im Raum. Sie wird aufgefächert, fragmentiert - je nach Erleben des Ichs im Gegenüber des Du und des Wir. Solch zeitliche Wahrheiten gilt es immer wieder neu voneinander zu hören und miteinander auszuhandeln.

In der Gottesgeburt des Wortes treffen sich Meister Eckhart und der Maggid Weinreb. Beide Erzähler des Wortsinnes der Bibel. Des Wortes, das aus der Stille verborgener Wortwelten in die hiesigen Sprachwelten hineingeboren wird. Wortwelten, die je nach Erzählung und Kontext Erfahrungswelten kreieren. Daher gibt es nicht das eine Kunstwerk, die eine Lebenswelt. Nicht die eine Meinung. Nur Vielfalt und Mehrdeutigkeit. Nicht eine Deutungsmacht, die zeitlich Fragmentarisches zur einen Wahrheit erhebt, wie das in Fundamentalismen in Religion, Kultur, Politik, Wirtschaft und Schulen der Fall sein kann.

Welche Wortwelten erzählen unser Leben beim Erzählen unseres Lebens? Wie können Erzählungen unser Leben erneuern? Das möchten wir an der diesjährigen Reichenau-Tagung erfahren.

2013
«Der innere Sinn»
Leben macht Sinn. Kein Tag, keine Sekunde vergeht ohne Sinn. Ob wir wachen, träumen, tiefschlafen, allen Wegen des Bewusstseins ist ein Sinn eingegeben, den wir – auch nichtbewusst – alltäglich leben. Allein schon unsere Sinne lassen uns in den vielen Formen und Ereignissen der Welt Sinnliches und Sinnhaftes wahrnehmen. Manches davon erfassen wir im Denken und versuchen es zu verstehen. Widersprüchliches interpretieren wir je nach Schattierung als sinnlos oder sinnvoll. Was wir nicht verstehen oder nicht akzeptieren, kann gar Sinnkrisen auslösen. Unsere Sinne und unser Denken können uns also sehr zu schaffen geben.

Was macht nun den Sinn des Lebens aus? Können wir dem Leben selbst Sinn geben? Aktiv? Oder ist es ein passives Geschehen? Vielleicht beides oder ein Drittes, gar ein Viertes oder Fünftes?  Ist der Sinn der Weg, den jede und jeder für sich und gemeinsam mit anderen und der ganzen Welt geht? Weinreb hat vom Sinn Wesentliches zu erzählen. Das Wesen vom Sinn findet er in der Bibel, in der er sich wiedererkennt. Die Bibel ist ihm Wort Gottes. Sie erzählt vom Sinn des Lebens und der Welt und offenbart den Weg des Menschen bis in alle Einzelheiten. Das beginnt in der Genesis mit der Schöpfung - mit dem Paradies und mit der Vertreibung aus dem Paradies. Die beiden Bäume im Paradies enthalten schon das ganze Leben. Die Frucht vom Baum des Lebens – im Einssein mit Gott – ist uns geschenkt. Doch wir nehmen die Früchte vom Baum des Wissens. Wir wollen selber die Massstäbe bestimmen. Das geschieht nicht einmal, sondern immer wieder - solange bis wir in der Frucht des Baums des Lebens uns wiedererkennen. Verborgen in Gott als innerem Sinn.

Die Bibel als Ganzes ist für Weinreb der Baum des Lebens. In seinem Buch «Schöpfung im Wort» erzählt er dieses Wortgeschehen als verborgenes Geschehen aller Lebenslagen. Das Wort ist ihm Brücke zwischen Wesen und Erscheinungsformen. Sozusagen als Himmelsleiter vermittelt es Sinnzusammenhänge zwischen Innen und Aussen. Im Aussen leben wir in der Vielfalt. Die Verschiedenheiten dieser Vielfalt leben wir auf dem Weg zu Gott. Im Inneren leben wir in der Verborgenheit - im Einssein mit Gott, im Frieden mit uns und der Welt. Wir kennen aber auch den Unfrieden, die Trennung vom Einssein: Liebe und Hass, Anziehung und Abneigung – all die Gegensatzpaare bestimmen dann unsere Gefühle und unser Denken.

Die biblischen Geschichten erzählen im Kosmos des Wortes von diesem göttlichen Geschehen. Die Genesis als zwei Geschichten steht im Pentateuch als Ein Buch den Vier Büchern Moses gegenüber. Das Einssein dieser Zweiheit hören wir im Sch’ma Israel, dem jüdischen Glaubensbekenntnis. Die beiden Gottesnamen von Genesis 1 und 2 sind Eins: «Höre Israel, der Herr unser Gott ist Einer». So ist das ganze Biblische Geschehen ein in Gottsein und zugleich ein Gottnäherkommen. Etwa im Opfergeschehen von Abraham und Isaak. Oder bei Hiob. Erst wird ihm fast alles genommen. Doch trotz der Leiden bleibt Hiob Gott treu. Dann bekommt er – in der Frucht des Baums des Lebens - das Doppelte zurück. Das sind die Freuden Hiobs. Lassen auch wir uns von den Freuden Hiobs überraschen.

2012
«Der Traum vom Paradies»
Es gibt Tage, Stunden, Sekunden da fühlen wir uns leicht, da gelingt alles, da träumen wir dahin, da tun wir alles selbstlos, um des Tuns willen, da fühlen wir uns glücklich – wie im Paradies. Die Kehrseite davon kennen wir auch. Tage, Stunden, Sekunden werden zur Klage, oft zur Anklage – Wer tut uns das an? Weshalb? Wozu? Wir verstehen das Unglück nicht. Das Glück hingegen, denken wir, verdienen wir allemal.

Das bittere Zeitgefühl ist philosophisch, religiös wie literarisch ein Grundthema. Oft sind es in den Schriftzeugnissen ältere Mentoren – Meister aller Art, weise ältere Personen in Romanen, oft der Romancier selber -, die um das gelingende glückliche oder misslingende unglückliche Leben zu wissen meinen. Eine literarische Ausnahme war der Schweizer Schriftsteller Robert Walser, eine philosophische Friedrich Nietzsche. Beide wissen um das Glück des Augenblicks ohne eigenständige Leistung. Beide endeten in der Psychiatrie. Anders Friedrich Weinreb.  Auch er weiss um das leistungslose Glück des Augenblicks. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Dort wo Glück und Unglück aus der zeitlichen Perspektive zusammenfallen, steht für Weinreb unsere Sehnsucht. Sehnsucht ist ein anderes Wort für den Traum vom Paradies. Wonach sehnen wir uns?  Ziehen uns die irdischen Gelüste oder die himmlisch verheissenen Genüsse an? Vermutlich beide. Meist bewegen wir uns dazwischen. Mal so, mal so. Unserem Begehren nach dem Hier steht immer schon die Sehnsucht nach dem Dort gegenüber, die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, auch die Sehnsucht nach einem Lebenssinn.

Was aber meint Paradies? Und: Wo liegt der Garten Eden? Im Hebräischen heisst «gan eden», das Hüten des Glücks, des sich Wohlfühlens. Der Mensch im Garten, in dem die Schlange auftaucht und den Menschen zum Fallen versucht, kann sein Glück hüten. Darin liegt die Freiheit des Menschen. Jeden Augenblick wählt er zwischen den beiden Bäumen, dem Baum des Wissens und dem Baum des Lebens. Wie ist dieser Baum des Lebens zu finden und zu empfinden? Da führt uns Weinreb in die Bibel hinein. Sie selbst ist der Baum des Lebens. Deren Worte können jeden Augenblick das Paradies erstehen lassen. Mittels der biblischen Geschichten können wir  das verlorene Paradies in uns auferstehen lassen. Gibt es doch in der Bibel kein «Vorher und Nachher». Gleichzeitig sind wir hier und dort. Gleichzeitig erleben wir hier das tägliche Auf und Ab und das Paradies dort.

Weinreb führt uns in tausendfachen Erzählungen dorthinein. Er erzählt, wie der Mensch vor der Spaltung als Mann und Frau, als Ein Mensch König ist. Er erzählt, wie das Weibliche, das Erscheinende wie also das Bewusste aus dem Nichtbewussten herausgenommen wird.  Er erzählt, wie das Zusammensein von Nichtbewussten und Bewussten als Paradies empfunden werden kann. Er erzählt, wie von dort das Wunder des Wortes und die Kraft des Erzählens erlebt werden kann – in vielfältigen Möglichkeiten, um den Traum vom Paradies nachzuempfinden.                                       

2011
«Gäbe es keine Liebe»
Gäbe es keine Liebe in dieser Welt, was wäre dann? Die Frage berührt alle, ob wir wollen oder nicht. Jeden Augenblick geben wir mit unserem Sprechen und mit unserem Verhalten eine Liebesantwort - bewusst und nichtbewusst. Mal fällt sie eher weltlich, mal eher himmlisch aus, mal ist sie irdisch vom Eros getrieben, mal himmlisch von Agape befruchtet. Beide sind voneinander nicht zu trennen. Werden sie getrennt, wird die Liebe gestört. Die Liebesantwort fällt dann verdreht, verzerrt oder erstarrt aus – nicht selten in Krankheiten mündend.

Die Liebe hat so viele Gesichter wie es Liebesantworten gibt. Jeder Augenblick zeugt davon. Und jede Zeugung ist ein Liebesakt, auch wenn wir ihn nicht verstehen. Für Friedrich Weinreb war die Schöpfungserzählung in der Bibel ein Liebesakt.  Eine Liebesgeschichte, die mit der Liebe Gottes beginnt. Hier in dieser Welt ist sie angesichts des fassungslosen Leides kaum zu begreifen - höchstens zu glauben. Aus Liebe zieht sich Gott zurück, damit die Welt und der Mensch sein kann. Gott verschenkt sich, damit das Andere, die Andere und der Andere sein kann. Für Weinreb kann man eigentlich nur jenseits dieser Welt das Wort Liebe aussprechen. Das spricht nicht gegen die gegenwärtig inflationäre literarische wie akademische Flut von Liebespublikationen und romantischen wie spirituellen Liebesgesprächen und Liebessongs. In unserer Zeitbesessenheit spricht es vielmehr für eine Sehnsucht nach Liebe. Nach einer tiefen Sehnsucht nach einer anderen Welt der Liebe, die ihre Erlösung nicht in der Zeit und von der Zeit her erwartet, sondern vom Ewigen.

Weinrebs Werk ist durchdrungen von Liebe. Überall tritt sie auf, verhüllt und manchmal kurz wie ein Blitz gnadenhaft enthüllt. Immer geht er von der Bibel, der Überlieferung und von seinem Erleben aus. Selbst im tiefen Fallen spürt man schon das Erlöstsein. Ob er vom Hohelied, dem einzigartigen Liebeslied, vom Pentateuch, von den Evangelien, den Paulusbriefen oder einem anderen Bibelgeschehen sprach, stets hörte man in seiner Stimme, die vom Einswerden sprach,  das Einssein von allen und allem heraus. Das Einssein von Himmel und Erde, von allen Generationen,  von dort, wo all unsere Wünsche, Gedanken und Hoffnungen nicht mehr umhüllt, sondern erfüllt sind.

Weshalb diese Paradoxe des Einswerdens, wenn wir schon im Einssein sind? In kaum einem anderen Buch spricht Weinreb soviel über Liebe wie im Hiob. Das Buch Hiob ist für ihn eine Mitteilung über Liebe. Das Leiden ist ihm gleichsam ein Ruf nach Liebe. Leiden und Lieben, beide seien umsonst. Liebe sei eine Beziehung, die der Mensch umsonst aufbaue; dadurch könne er das Leid tragen, das ihm ohne Ursache zukomme. Leid sozusagen als andere Seite der Liebe. Fast alles wird Hiob genommen. Erst im Sturm Gottes, im Gespräch mit Gott, bekommt er das Doppelte zurück. Hiob, der Hinderer in uns, der die Liebe nicht gönnt, in der Gotteserfahrung aufersteht er, ohne hier gestorben zu sein. Der Tod verliert in der Liebe Gottes seinen Schrecken. Und so kann Weinreb auch von den Freuden Hiobs sprechen. 

2010
«Die heilende Kraft im Wort»
Wie können Worte heilen? Friedrich Weinreb (1910 Lemberg – 1988 Zürich), der dieses Jahr hundert Jahre alt geworden wäre, hat mit seinem Leben im Tun und im Erzählen die Antwort selbst gegeben: Worte können heilen, weil sie schöpferisch sind und an der Schöpfung teilhaben. Selbst im konkreten Alltag gibt es eine «Schöpfung im Wort». Und die hat Friedrich Weinreb im absichtslosen Tun gelebt. Sein Hauptwerk «Schöpfung im Wort» zeugt vom ewigen Leben im Wort, das aus dem erlebten Leben schöpft. 

Worin besteht nun die heilende Kraft im Wort? Was hat es mit dem Heiligen zu tun? Was ist es, was in den Worten heilt? Und: Was ist dabei unter Gesundheit zu verstehen? Weinreb hat von der Leiblichkeit des Menschen her Wesentliches zu erzählen. Das Wort, das von jenseits her kommt – denn nach dem johanneischen Prolog ist Gott das Wort – kennt den Körper in anderen Dimensionen. Im Körper hier können wir das nur erahnen und ersehnen. So bedeutet zum Beispiel das Skelett des Körpers auf hebräisch ezem, in einer anderen Dimension das Selbst. Oder das Blut im Körper auf hebräisch dam, bedeutet im Ewigen unser Gottgleichen. So lässt sich ersehen, was Gesundsein für den Menschen bedeuten könnte, und wie Worte dazu beitragen können, ewig gesund zu werden und zu bleiben.

Von dieser schöpferischen Kraft im Wort können wir uns beschenken lassen und das Wort weiterschenken. Vielleicht gibt es dann die Möglichkeit eines Durchbruchs von der Absicht zur Freiheit des Absichtslosen. Können Worte doch heilen, auch wenn alles Empirische, alle Erfahrung aussichtslos erscheint. Oft gerade dann. Auch da steckt alles voller Geheimnisse. Denn das Heilen durch Worte ist meist verborgen und spielt sich im Verborgenen ab.

Friedrich Weinreb hat in dieser Hinsicht nie Rezepte gegeben. In seiner Hinführung und Hinweisung im erzählten Wort hörte man aber eine authentische, einzigartige Stimme sprechen. Eine Stimme, die im Wort Gottes lebte. Er selbst sagte es so:«So kann man dieses Wunder erkennen, wenn man zur Ursprache kommt und im Wort Gott erkennt. Und das ist das Wunder, das dem Menschen das ewige Leben schenkt».

An der diesjährigen Reichenau-Tagung lassen wir viele Stimmen zu Wort kommen. Den Märchenerzähler, der ganz einfach voller Geschichten ist und der im Laufe des Erzählens hofft, dass im Zusammenspiel mit den Zuhörern im Hin und Her der Worte die Geschichten irgendwann und irgendwie zu einem stimmigen Sinn kommen. Die Therapeuten, die im heilenden Wort ein beziehungsgönnendes Wort sehen, das Zeitlichkeit wie Ewigkeit gönnt und das  beide verbindet. Das heilende Wort als Frucht vom Baum des Lebens, der schon die Früchte vom Baum des Wissens in sich trägt. Worte also, die einen schöpferischen Raum zum Sprechen und zum Handeln eröffnen können. Und den erzählenden Philosophen, der uns im Erzählen von drüben hier anspricht und in die ewige Kindheit, in die ewige Jugend mit Gott begleiten möchte. Lassen wir uns von der heilenden Kraft im Wort überraschen. 

2009
«Das Kind in uns»
Das Kind atmet. Es ist da, es schreit, lächelt, brabbelt, lallt und strampelt. Der Säugling bewegt sich mit seiner melodischen Singweise und Bewegungsart in einem lautmalerischen und bewegungsoffenen Paradies. Seine Melodien erfüllen eigene Tonwelten. Alles klingt an. Freude und Traurigsein. Jedes Strampeln findet seine Lautäusserung. Von da nach dort. Von lautlos bis lautstark. Bewegung und Stimme stimmen fast mühelos überein.

Diese «Blütezeit der Melodie» führt dann im Worte in den aufrechten Gang. Spielend wie im Traume kommen dem Kind die typischen Laute seiner Mutterprache. Sie formt das Kind mit seinen charakteristischen Konsonanten und Vokalen. Der Weg in die «Blüte der Sprache und des Sprechens» mag das Kind am Anfang wohl etwas befremden. Neues tut sich auf, ursprüngliches verbirgt sich. Bald wird die Sprache zur neuen Heimat. Das Kind beginnt darin zu wohnen. Und es begegnet im Worte der Welt und, was nicht minder schwierig ist, sich selber.  Wo ist sie aber geblieben – die spielerische Vielfalt der Laute? Die ursprüngliche Melodie?

Vielleicht erleben wir dieses unvordenkliche Lautparadies im zweckfreien Spiel, im absichtslosen Tun. Vielleicht erleben wir es beim Sprechen in den verborgenen Spiralwindungen. Im traumwandlerischen Spielen leben Kinder noch in diesen Spiralwindungen. Sie sind dabei spontan und unmittelbar. Diese Ursprünglichkeit wird aber im Laufe des Entwicklungsprozesses im Kind fortwährend angegriffen. Vermehrt muss sich das Kind den Angriffen und den Herausforderungen der Welt und der Menschen stellen. Auf dem Weg zum Erwachsenen lernen Kinder, sich zu behaupten und für ihre Existenz aufzukommen. Das Kind kann dabei im Strom der Zeit untergehen. Was bedeutet das Untergehen oder anders gesagt die Verbergungen des Kindes in uns?  Was heisst das für unser alltägliches Leben? Und: Wie lässt sich das Kind wieder zum Leben erwecken?

Die Bibel und die Überlieferungen erzählen uns sinnreiche Worte vom Leben im Dort und geben uns überraschende Antworten zum Leben im Hier. Sie sprechen vom Kinderjäger und vom Kindermord. Sie sprechen aber auch von der Kindsgeburt im Menschen und von der Erlösung durch das Kind.  Sie erzählen, dass das Kind ins Wort gelegt wird. Sie erzählen wie das Wort sozusagen als Kind zu uns kommt. Und sie erzählen vom Göttlichen Kind, das als Erlöser kommt. Das Kind spielt also eine zentrale Rolle in unserem ganzen Leben. Wenn Friedrich Weinreb vom Kind sprach, ging er noch näher zu unserer Ursprünglichkeit und sprach vom Säugling im Kind. «Die Welt ist», sagte er, «auf die Säuglinge im Lehrhaus gebaut?» Nicht minder ursprünglich war ihm der Jugendliche im Übergang zum Erwachsenen. Weinreb sprach vom Jüngling, hebräisch «naar, dem Erweckten. Der Jüngling ist der, der vom Wort erweckt wird und der das Wort wachhält ­– im Schweigen, im Sprechen wie auch in seinem Verhalten. Er wird von der Ewigkeit geweckt und erweckt die Zeit zur Ewigkeit. Wie wach sind der Jüngling und der Säugling in uns?

Die Bibel und die Überlieferungen haben uns modernen Menschen im Hörenkönnen und Vernehmenlassen Überraschendes und Erfreuliches zu sagen. Lassen wir uns von den Kindern und ihren Stimmen in uns überraschen.

2008
«Die Psalmen. Erzählungen unseres Lebens aus dem Ewigen»
Wie erleben wir, was wir alles erleben? Wie vermögen wir überhaupt davon zu sprechen? Wie erzählt sich das Leben aus der Erlebnisperspektive des alltäglichen Auf und Ab, des Erfolgs und des Scheiterns sowie des Erkrankens und des Gesundens? Wie erzählt sich eine Begegnung mit einer Riesengrille oder mit dornigen Rosen und einer Schnecke hinter der Hecke? Wie erzählt sich das plötzliche Treffen mit einem spielenden Kind, das nicht gestört werden will? Ja, wie erzählt sich das Geborenwerden und das Sterben tausendfältiger, endlicher Schöpfungen? Auch unseres Lebens? Wie begegnen wir diesem Mysterium? Wie lassen wir uns davon berühren? Und wie sprechen wir darüber? Oder lassen wir es im Schweigen einfach sein, in sich ruhen? Und: Vermögen wir dann aus dieser Ruhe zu leben? Gelebtes Mysterium sozusagen.

Die Psalmen erzählen von diesem Leben. Aber anders als wir das im alltäglichen Leben erleben. Sie erzählen vom ganzen Leben, vom ewigen Leben. Von Erlebnismöglichkeiten, die wir von dorther hier im Alltag zu erleben vermögen. Die Psalmen sind Gespräche mit Gott - mit allen Höhen und Tiefen des Lebens. Der Weg, die Bewegung geht dabei vom Unbewussten ins Bewusste. Vom Verborgenen wird unser alltägliches Leben ins Wort gebracht. In diesem Sinne leben die Psalmen ganz in der Doppelwelt des Wortes und entfalten von dort ihr Leben hier. Sie sprechen von Gott noch bevor die Welt erschaffen wird (Psalm 90), sie sprechen von der Gottverlassenheit (Psalm 22) und vom Guten Hirten (Psalm 23). Und sie manifestieren sich hier in unserem Verhalten, in unserem Tun und Nicht-Tun, in unserem Wirken und unseren Werken.

Selbst in der tiefsten Gottverlassenheit ist Gott da. Auch davon erzählen die Psalmen. Ob wir sie lesen oder singen, wir danken und loben dabei Gott. Als Lebens- und Liebeslieder bringen sie den Namen des Herrn als Jah zur vollen Entfaltung. Unser ganzes Leben können wir in ihnen erkennen. Sie sind von Anfang an in der Schöpfung da.

Viele Psalmen sind von David. Er, der – wie sein Name im Hebräischen schon sagt – der Geliebte ist, er empfängt sie. In Davids Namen erleben wir die Beziehung zur Liebe. Doch die Liebe ist unergründlich. Wie Friedrich Weinreb oft sagte, ist die Welt auf Liebe gebaut. Das Geheimnis der Liebe ist auch das Geheimnis von David, dem Geliebten. Er, der in der eigenen Lebenshingabe alle Höhen und Tiefen erlebt. Von David kommt der Messias, der Erlöser. Er ist die Frucht dieser Liebe.

Wenn wir unser Leben in der Hingabe und Hinnahme wie David erfahren, kommt auch die Melodie. Die Melodie, die das Lebenslied zum Tragen bringt. David ist offenherzig wie ein Kind. Er lässt die Melodie von der Neschama, der Seele, hineinkommen. Sie nährt und leitet ihn. Jeder Mensch hat so seine ihm entsprechende Melodie und sein Lebenslied. Sie manifestieren sich in unserer Beziehung zum Leben. Etwa in unseren Stimmungen und in unseren Verhaltensweisen. Hören und achten wir offenherzig nicht nur unsere, sondern auch die Melodie der Anderen. 

2007
«Der eine und die vielen Wege»
Ständig sind wir unterwegs, bewegen uns auf Wegen, Umwegen, Abwegen, Auswegen und Kreuzwegen. Umwege, die uns wegführen; Abwege, die uns verführen; Auswege, die uns flüchten lassen statt standzuhalten; Kreuzwege, die uns anderem Leben und anderen Lebensweisen begegnen lassen. Alles Wege, die uns in Atem halten, manchmal atemlos und ruhelos machen. In solchen Momenten, wenn zu viele Wege sich kreuzen, sehnen wir uns nach Ruhe, suchen wir uns zu besinnen, suchen den Sinn der verwegenen und verwobenen Wege, suchen den Sinn gar des Weg-Gehens. Des Weggehens wovon? Vielleicht des Weggehens aus der Ruhe.

Friedrich Weinreb war stets unterwegs und auch zu Hause. Zu Hause bei sich in der Ruhe. Eine tiefe Ruhe wohnte ihm inne. Aus dieser Ruhe kam ihm das Wort, sprach er von den vielen Wegen, die er im abgründigen Dasein selber erlebte und bis zur grundlosen Freude lebte. Weg und Ruhe waren ihm eigen wie das Sprechen davon. Nur im Ruhen kann Gott, gemäss seinen eigenen Worten, zu Wort kommen und im Weggehen, im Ziehen («Ziehe mich hinter dir her», Hohelied) spricht der Mensch. Auf dem Weg gestaltet sich das Leben im Namen Gottes. In der Ruhe öffnet sich ihm die Wohnung am Ort Gottes. Was wir im Unterwegssein ins Wort bringen können, geht in der Zeit nicht unter. Deshalb war für Weinreb das Sprechen gleichsam als Übersetzen des Wort Gottes in allen Nuancierungen unserer Sprachen und unseres Verhaltens so wichtig. Denn das Wort trägt uns von der einen Welt in die andere und es überbrückt und verbindet Welten. Da die meisten Welten in uns verborgen sind, bildet das Wort Wege; Wege der Sehnsucht, die sich hier im konkreten Dasein in mannigfacher Beziehung manifestieren können.

Weg und Ruhe, Bewegung und Gegenbewegung, das sind Grundgedanken Weinrebs. Der Mensch steht dabei immer im Zwischen. Im Zwischen der vielen Wege sehnt er sich nach dem Einen, erahnt er den einen Weg. Die vielen Wege erleben wir im Bewussten, der eine Weg liegt immer im Nichtbewussten, im Verborgenen. «Im Nichtbewussten hört der Mensch die Stimme Gottes und übersetzt sie in die Stimmung, die diesen Worten hier im Verhalten einen Sinn des Weges gibt,» schreibt Weinreb. Im Weg des Nichtbewussten, im Näherkommen zu Gott, gehen wir den Weg in der Ruhe. Hier, im Alltag, drückt es sich als ein Näherkommen zu den Menschen aus, zu allem, was ist. Als Suche nach Zusammenhängen, nach Einheit, nach dem, wie sich die vielen Wege zu einem Ganzen fügen.

Was als Weg erscheinen kann, ist also immer ein Weg unter vielen. Der eine Weg kann nicht erzählt und nicht bewusst gegangen werden. Dieses Grundthema, dass alle Menschen in ihren verschiedenen religiösen Traditionen sich unbewusst auf dem einen Weg bewegen, der nicht erscheinen kann, werden wir an der diesjährigen Reichenau Tagung anhand einer Reihe von Themen variieren.

2006
«Leben im Leib. Liebe als Gabe»
Zum Gedenken an Friedrich Weinreb organisiert die Friedrich Weinreb Stiftung in Zürich die diesjährige Herbsttagung zum Thema «Leben im Leib. Liebe als Gabe». Mit diesem Thema möchten wir die konkrete Weise besprechen, wie wir im Alltag das Verhältnis von Zeitlichkeit und Ewigkeit erleben. Die Seele, Neschama, zeigt uns den Weg vom Körper zum Leib: Schem, Haschem, Gott selbst, zeigt uns so den Körper als Öffnung zu allen Namen, zu allem, was ist, zur Welt, zu Gott, der Wort ist. Wenn wir dem Wort nachfolgen, lernen wir so den Leib besser kennen und befreien dadurch den Körper von seiner Begrenztheit. Umgekehrt, in der Gegenbewegung vom Leib zum Körper erahnen wir auf neue Weise, was es heisst, in der Vergänglichkeit des Körpers das Geheimnis der Unvergänglichkeit des Leibes zu erleben: Den auferstandenen Leib als Geschenk des Vaters im Sohne, Versöhnung als Gnade, als «Gabe der Liebe».

2005
«Leben im Wort. Sprache als Lebensraum»
Wunderbar, wie sich unser Leben erzählt und gestaltet. Von draussen wie von drinnen. Dort, wo wir gerade stehen. So, wie wir gerade verstehen. Am Morgen anders als am Nachmittag und am Abend. Im Schlaf verborgen, ein Fingerzeig im Traum. In alldem erleben wir mehr als wir begreifen. Unser Leben erzählt sich uns in Worten. In Worten, die uns begreifen. In Worten, die mehr wissen als wir begreifen, die uns in unserem ganzen Sein umgreifen.

Friedrich Weinreb lebte im Wort. Das Wort sprach durch ihn und aus ihm, und es ergriff die Zuhörer in ihrem innersten Sein – ohne dass sie alles begreifen mussten.  Sein Lebensweg vollzog sich im Worte, im gesprochenen wie im schweigenden. Das Wort kam ihm vom Baum des Lebens, der Sein und Werden in Einem enthält. In seinem autobiografischen Buch «Meine Revolution» erzählt er, wie sich ihm gerade in den Kriegswirren des 2. Weltkrieges das Wort öffnete und wie er das Wunder der Sprache erlebte. «Und jetzt hatte ich diese ganze Welt der Worte, Gottes Worte vor mir. Jetzt war ich im gelobten Land, in der Welt Gottes.» Zehntausende von Seiten schrieb er darnach über die Wunder der Thora. Aus diesem Glücklichsein heraus verschenkte er sich weiter, suchte im Erzählen anderen die Tore zum Ewigen zu zeigen.

Im Anfang ist das Wort, heisst es bei Johannes. Im Sprechen erschafft Gott den Menschen und die Welt. Und Gott erwartet eine Antwort. Eine Beziehung, in die der Mensch frei ist einzutreten. In eine Beziehung im Wort. Im Wort, das Gott schenkt, das mehr weiss als der Mensch, der es spricht. Das ist das Geheimnis des Wortes. Und in dieses Geheimnis wieder einzutreten, darin liegt die Freiheit des Menschen.

Von diesem Geheimnis erzählen die beiden Schöpfungsberichte in der Bibel. Zwei Schöpfungen, die Eine ist. Die Schöpfung der Natur, des Kosmos und die Schöpfung im Wort. Als der eine Mensch, als Mann und Frau, wird der Mensch in das Paradies hineingestellt. Und der eine Mensch vom Baum des Lebens nimmt vom Baum des Wissens. Damit, mit der Vertreibung aus dem Paradies, beginnt der Lebensweg. Einerseits ein grossartiges Versprechen, andererseits ein Verbrechen – wäre da nicht die Möglichkeit der Umkehr. Das Versprechen nämlich, das Verbrechen wieder gut, ganz zu machen, zu heilen. Das Versprechen, auf das Wort Gottes zu antworten – im absichtslosen Tun, im Tun umsonst.

Vom Erzählen und vom Zuhören der Geschichten in der Bibel und der Überlieferung gestaltet sich unser Leben - insofern wir den Mythos an uns geschehen lassen können. So können diese Geschichten mit den ganz persönlichen Geschichten unseres Alltags zusammenfallen. Das macht dann gerade das Überraschende jedes Tages aus.  

2004
«Wege im Glauben»
Tag für Tag gehen wir Wege. Geografische, schulische, berufliche, persönliche, familiäre, gesellschaftliche, religiöse, spirituelle und viele andere mehr. Die einen sind leichter, die anderen eher beschwerlicher, die einen sind abenteuerlicher, die anderen normaler, alltäglicher. Oft halten wir sie gar nicht auseinander, wir gehen sie einfach. Das Gehen von Wegen ist sinnlich erlebbare Realität und Metapher zugleich. Wir erfahren sie in der materiellen Welt und wir erleben sie in der Welt des Wortes, sozusagen als Schöpfung im Worte. Selbst im Deutschen hat das Wort Weg von seiner Herkunft her mit Sinn zu tun. Im Gehen der Wege erleben wir Sinn und, das gehört auch dazu, oft Unsinn, wenn wir nur in die Vielheit hineingehen und vom Ursprung weggehend unsere Herkunft vergessen.

Das letztjährige Reichenau-Thema Teschuwa, Rückkehr ins Ewige, beinhaltet das Gehen eines Weges, eines Weges im Zeiträumlichen und – befreit aus dem Zeiträumlichen  – eines Weges im Verborgenen. Beide Wege sind miteinander auf geheimnisvolle Weise verbunden. Auf unserem verborgenen Weg, auch durch den Tempel, sind wir – wie im zeitlichen Weg – fortwährend in Wandlung begriffen. Begleitet und geführt werden wir durch die Melodie. Sie kommt vom Ursprung, von der uns liebevoll suchenden Seele. Wenn wir sie suchen und hören, eröffnet sie uns sinngebende Wege ins Wort und ins ganze Leben. Dieses durch die Melodie getragene Liebeslied des sich gegenseitigen Suchens, Verlierens und Wiederfindens wird im Hohelied wunderbar erzählt.

Die Melodie ist keine Sache der Intelligenz, des kausalen Denkens und des Wahrnehmens. Die Art der Melodie kommt aus unserem Glauben-, Vertrauen- und  Liebesvermögen. Wenn es auch nicht immer leicht fällt zu glauben, zu vertrauen, geschweige denn zu lieben, der Weg, den jeder im Glauben geht, in der Sehnsucht nach dem Ewigen, dieser Weg ist der Weg vom Baum des Lebens. Der Baum des Lebens vereinigt in sich schon alle Wege. Vielleicht ahnen oder spüren wir in kaum nachvollziehbaren  Glücksmomenten, wie diese verborgenen Wege den zeitlichen Wegen nahe kommen, sich entsprechen, ja sich gleichen.

Das diesjährige Reichenau-Thema setzt das letztjährige fort. Im Glauben können wir den Baum des Lebens erleben, bescheiden, kaum wahrnehmbar. Im Glauben kann sich das Erleben unserer materiellen Welt relativieren. Die Wege im Glauben äussern sich in unserem Verhalten, wie im absichtslosen Tun, im Tun umsonst. Sie zeigen sich auch in unserer Befindlichkeit, in unseren Stimmungen, wie im grundlosen Zufriedensein oder Glücklichsein. Immer wieder führte uns Friedrich Weinreb erzählend auf diesen Wegen im Wort zum Ewigen. Das Wort, das ihm aus dem Ewigen kam, in dem er lebte und das er - einer Brücke gleich - mit seinem ganzen Leben erfüllte. Im Glauben kann sich das verbindende Wort erfüllen und dem Menschen die Beziehung zum Ewigen  eröffnen.

2003
«Rückkehr ins Ewige»
Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Und wo stehen wir? Jeden Tag gehen wir aus dem Haus in die Vielfalt der Welt. Auch aus uns selber gehen wir ins vielfältige Tun, ins Wahrnehmen, Denken, Interpretieren und Werten hinein. Und jeden Tag kehren wir wieder heim. Zu uns selber, in unsere Intimsphäre, in die Geborgenheit, in den Schlaf. Wir erleben dies – jeder aufgrund seiner Lebenseinstellung in seiner ihm eigenen Lebensart. Wir kennen und verkennen dies oft auch als Trott im Alltag. Und wir fragen uns: Wozu? Was soll dieses Leben? Wer bin ich, der dies alles mittut und mitmachen muss? Gibt es nicht etwas Anderes: Unerwartetes, Unerhofftes, Unerhörtes, Unmögliches? Einen Durchbruch als Gegenbewegungen, der Gegensätze verbindet? Im Wesentlichen trifft man immer auf die Fragen von Geburt und Tod, vom Vorher und Nachher, vom Leben in der Zeit und im Verborgenen.

Die Bibel erzählt in ihrer heiligen Art vom Leben. Sie erzählt vom ganzen Leben. Sie erzählt diese Fragen und Antworten in Worten biblischer Bilder. Die Fragen und Antworten selbst sind Wortwirklichkeiten dargestellt in den Urgestalten der biblischen Bilder.

Friedrich Weinreb, der aus der Bibel schöpfte und sie auf seine ihm eigene Art in die heutige Zeit übersetzte, vermittelt in seinem Hauptwerk Schöpfung im Wort Einblicke in diesen im Verborgenen gehenden Weg des Erlebens, Begegnens und Verstehens. In vier Teile gegliedert beginnt es mit dem Universum des Wortes, führt zur Ausdehnung und zur Krümmung und endet mit der Rückkehr. Die Umkehr, der Durchbruch der Seele im Zeitlichen, beginnt in der Krümmung. Auch im Buch Jonah erzählt Weinreb diesen Weg des Menschen in die Welt und die wunderbare Ueberraschung der Umkehr gerade in der höchsten Verzweiflung und Verwirrung.

An der diesjährigen Tagung geht es wieder um Begegnung, um die Begegnung mit dem Verborgenen, mit dem Mysterium, um die Begegnung mit unserer Realität und um die Möglichkeit des Unmöglichen, der Umkehr: sozusagen um die Begegnung aller Begegnungen. Die Referenten werden von biblischen Gestalten und Geschehnissen der Umkehr erzählen. Die Umkehr als Metapher, die alle Erfahrungsebenen berührt. Die Umkehr als Befreiung aus dem nur Zeitlichen, als Rückkehr zum Ursprung unserer Herkunft, als Rückkehr zum Baum des Lebens. Sie werden darauf eingehen, wie sich die Umkehr als Rückkehr im Leben äussern kann, wie sie zum Verhalten, zur Lebenspraxis werden kann. Sie werden der Umkehr als grundlegende Zeiterfahrung in verschiedenartig vertieften Bildern und biblischen Urgestalten begegnen: wie in Mose und Aharon, in Abraham und Isaak, in Jakob und Esau, in Joseph und in Zachäus.

Erleben wir Wege der Umkehr als Näherkommen zu uns selbst und zu unserem Ursprung.

2002
«Unser Leben im Spiegel biblischer Gestalten»
Manchmal wollen wir nicht erleben, was wir erleben. Wir meinen dann, das Schicksal meine es nicht gut mit uns. Welches Schicksal? Wer schickt uns unser Leben? Und wer meint  es nicht gut? Offenbar geht es jeden Augenblick um unser Leben, das wir leben. Wir sind jeden Augenblick das Jetzt. Und dem Jetzt können wir nicht aus dem Wege gehen.

Die Bibel erzählt in ihrer heilige Art vom Leben. Sie erzählt vom ganzen Leben, vom Leben ohne Vorher und Nachher, sie erzählt vom Jetzt. Das ist für uns kaum zu fassen. Wenn wir in den Spiegel schauen, tritt uns die Welt entgegen, wie wir sie wahrnehmen. Wenn wir in die Bibel schauen, begegnen wir einer Wortwirklichkeit mit ganz anderen Qualitäten.  Friedrich Weinreb, der aus der Bibel schöpfte und sie auf seine ihm eigene Art in die heutige Zeit übersetzte, vermittelte uns Einblicke in die Wege biblischer  Gestalten. Es sind Wege im Verborgenen, in Beziehung zu den Wegen, die wir hier durch das Leben gehen.

Die Referenten an der diesjährigen Tagung erzählen Wege biblischer Gestalten. Diese sind in jedem Menschen gegenwärtig, manchmal etwas verschüttet, gar abgetrennt, aber doch verborgen anwesend. Wer sich in diesen Wegen biblischer Urtypen zu erkennen vermag, kann sich selber begegnen. Jeder auf seine ihm eigene Art, wie er selber vielschichtig und vielgestaltig im Worte lebt und es erlebt.

Weinreb  erzählte oft chassidische  Geschichten, bei denen es einem leichter wurde. Gidon Horowitz  lässt am Freitagabend Gestalten chassidischer Geschichten zum  Leben erwachen und lädt  uns zu einer Begegnung mit diesen Welten ein. Die weiteren Referenten begegnen biblischen Gestalten des Leids und der Freude. Hiob, dem alles genommen wird. Hiob, der auf seine Fragen keine sinngebenden Antworten erhält, der nicht  aufhört zu fragen, bis er Gott begegnet  und er alles doppelt erhält.

Dem Weg des Lebens begegnen wir auch in Aegypten, dem Leiden in dieser Formenwelt.  Doch in Aegypten geschehen Ueberraschungen und Ausnahmen – wie der Auszug aus Aegypten. Doch: Wer  zieht aus? Und wer bleibt?  Auch die Josefsgeschichte lebt tief verborgen in uns. In diesen Urbildern erleben wir unser eigenes Drama immer wieder neu und immer mit der Möglichkeit zur Umkehr. 

2001
«Mysterium des Hörens»
Wie schwierig das Hören, das Zuhören, das Hinhören und das Aufeinanderhören ist, erleben wir in unzähligen Alltagssituationen. Selbst das Aufsichhören und das Insichhören gelingt kaum mehr. Wie ein rosarotes Rauschen hat sich ein Lärmteppich über unsere Sinneswelten gelegt. Mit der verstärkt bewussten Hinwendung zur Welt der Sinnesschöpfungen nehmen wir fast nur noch technisch erzeugtes  und kommunikatives Echo wahr. Die Nymphe Echo trifft sich da in einer Beziehung mit dem in sein Spiegelbild verliebten Narcissus. Beide treffen sich in den Spiegelungen dieser Welt der Sinnesschöpfungen. Was bleibt ist Eigenliebe und Selbstaufgabe, ist das Gefangensein in der  spiegelverkehrten Erkenntnissuche nach Identität.

Thema der diesjährigen Reichenau-Tagung heisst «Mysterium des Hörens». Hören ist an den einzelnen Menschen gebunden und zutiefst verinnerlicht. Das äussere wie das innere Hören, wie deren Beziehung zueinander. Hören hat alle Sinnesnuancen. Als erlösendes Hören ist es – wie es Friedrich Weinreb ausdrückt – ein Vernehmen im Schweigen. Im Heiligen des Heiligen wird das Wort still, lautlos gehört. Das Hören schliesst dort in der tiefsten Verborgenheit alle anderen Sinnesorgane mit ein. Die Schöpfung im Worte ist gleichsam die Schöpfung im hörenden Vernehmen.

Wo und wie begegnen wir dem Hören – mit und ohne Laute? Begegnen wir ihm im Schma Israel? «Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist Einer.» Begegnen wir der ersten Person und entsteht aus der Sehnsucht die Begegnung des Ich, mit dem Gegenüber, dem Du und dem Er. Höre Israel, höre Verborgenheit, der Herr, unser Gott, ist Einer. Erleben wir die Welt, erleben wir uns als aus dem Verborgenen lebend? Ziehen wir dorthin, hören wir dort, wo das Eine mit Allem verbunden ist? Ist der Herr unser Gott das Fundament, das Mysterium allen Lebens?

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