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Thema

Hier werden wichtige Themen von Autoren beleuchtet, die mit dem Werk von Friedrich Weinreb vertraut sind.

Zum Sinn des Alltags



Im Anfang, im Prinzip ist das Wort. Das Wort ist eine Brücke zwischen Physischem und Geistigem, zwischen Diesseitigem und Jenseitigem. Im gesprochenen Wort, in der Sprache fliesst die Ewigkeit in unseren Alltag hinein. Sie holt uns «rüber» vom Sichtbaren ins Unsichtbare und zurück ins Sichtbare. Sie öffnet den Alltag zu einer anderen Dimension, die den Alltag durchdringt. Diese andere Dimension ist unsichtbar, aber ganz im alltäglichen Geschehen verankert. Der Alltag wird so zum Zeichen einer unsichtbaren Wirklichkeit. Von daher können wir von einer Semiotik des Alltags reden, das heißt, der Alltag ist eine Zeichenwelt, wo jedes Ereignis seinen Doppelgänger, seinen verborgenen Sinn im Ewigen hat. Von Eugen Baer (20.12.05).



Die Sprache der Zukunft
Wenn wir über den Sinn unseres Alltags nachdenken wollen, dann müssen wir wohl mit der bekannten Klage beginnen, daß wir eigentlich nie genug Zeit dazu haben. Daran ist nicht bloß der Zeitmangel schuld. Denn mit dem Sinn ist es nicht so einfach. Er ist verborgen, und nicht nur verborgen im Sinne des Verstecktseins, sondern verborgen im Sinne des Geheimnisses, des Rätselhaften. Sowohl im Ablauf unseres Alltags mit seinen Leiden und Freuden wie auch im Weltgeschehen als ganzem spielt sich so vieles ab, daß man als Christ aus dem Fragen eigentlich nie herauskommt. Eine dieser Fragen ist sicher die, was denn das ganze Weltgeschehen für einen Sinn habe. Da jedoch diese Frage viel zu groß ist für den menschlichen Verstand, ist es vielleicht angeraten, ganz persönlich auf unseren Alltag hinzuweisen, auf die tägliche Arbeit und auch auf unsere Ferien, auf unsere Erholungszeiten. Denn gerade während einer Erholung haben wir oft die notwendige Distanz zu den alltäglichen Gewohnheiten, um über den Sinn unseres täglichen Tuns nachdenken zu können.

 

So wollen wir uns denn jetzt ganz einfach wiederum ein paar Grundfragen stellen, wie wir es sicher schon oft getan haben und fragen, wie es denn mit dem Sinn unseres Alltags bestellt sei. Wie könnte ein im Glauben gelebter Alltag erlebt werden? Ist für uns das tägliche Geschehen sinnvoll, macht es uns glücklich? Spüren wir etwas von der Freude? Worum geht es uns eigentlich im täglichen Ablauf? Gerade davon möchte ich hier – vom Werk Friedrich Weinrebs her – erzählen.

 

Ich fange mit einem Bild an: Der persische Mystiker und Dichter Rumi, der im 13 Jh. in Konia in der heutigen Türkei lebte, hat ein Gedicht geschrieben, das – wie alle Gedichte – nicht nur etwas über das Erlebnis der Welt, sondern auch über sich selbst als Gedicht, als sprachliche Verdichtung, etwas aussagt. Das Gedicht ist überschrieben mit dem Titel «Entwöhne dich» und enthält einen Dialog mit einem Embryo:

 

Stell dir ein Gespräch mit einem Embryo vor.
Du sagst etwa: „Die Welt draußen ist weit und vielfältig.
Da gibt es Weizenfelder und Bergpässe,
und blühende Obstgärten.

Nachts gibt es Millionen von Milchstraßen und im Sonnenlicht
die Schönheit von Freunden, die bei einer Hochzeit tanzen.«

Du fragst den Embryo warum er, oder sie, so gebückt
im Dunkeln bleibt, mit geschlossenen Augen.
Höre gut auf die Antwort:
Es gibt keine „andere Welt«.
Ich weiß nur, was ich erfahren habe.
Du must halluzinieren.
(The Essential Rumi, Seite 70 f.,
Übersetzung aus dem Englischen E. Baer)

 

Hier haben wir also ein Kind in der Enge des dunklen Mutterschoßes, das nur auf seine Sinne vertraut und daraus schließen muß, daß es außer dieser engen Dunkelheit nichts gibt. Das Kind ist kein Zeichenleser, sonst käme es zu anderen Schlüssen. Denn sein kleiner Körper – eingeengt wie er ist – spricht laut von einem anderen Leben – post uterum – unter Sonnenlicht und Sternen. Seine Lungen sprechen von einem Leben in der Luft und im Freien, seine Hände sprechen von Dingen zum Greifen und Begreifen, seine Füsse – nutzlos im Schoß – sprechen von festem Boden und weiten Strassen. Sein Mund spricht vom Saugen, von Mutterbrust, ja, von Küssen und Essen, kurz: sein ganzer Körper ist in Vorbereitung auf ein Leben in anderer Form. Er wird bald das Wasser des Mutterschoßes verlassen, um ins Licht des Festlandes vorzustoßen. Die Zeit wird ihn dahin bringen, ob er nun will oder nicht. Dennoch – so das Gedicht von Rumi – traut der Embryo nur seinen Sinnen. Er ist kein Semiotiker; er kann keine Zeichen lesen. Wenn er dann ans Sonnenlicht kommt, können wir vielleicht seine Überraschung von seinem Gesicht ablesen.

 

All dies ist Allegorie, meint ein Anderes, eine höhere Geburt, von der Jesus zu Nikodemus spricht:

 

«Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich
Gottes nicht sehen.» (Joh 3,3)

 

Also nochmals eine Geburt, diesmal «von oben», wie das Johannes Evangelium sagt, also nicht eine biologische Geburt, sondern «aus dem Geiste». Und wiederum – von seiten von Nikodemus – ein Nichtverstehen, ein Zu-wörtlich-nehmen:

 

«Wie kann ein Mensch noch geboren werden, wenn er schon
alt ist? Kann er denn wieder in den Schoß seiner Mutter eingehen
und neugeboren werden?»(Joh 3,4)

 

Aber nein, nicht so, sondern eben «aus dem Geiste». Aber was heißt das? Verstehen wir das? Gerade darüber möchte ich sprechen. Aber bevor ich dies tue, möchte ich erstmal noch eine Frage stellen. Wir haben gesehen, wie beim Embryo die Fähigkeit fehlte, die Zeichen seines Körpers zu lesen, denn die hätten ihm eine Ahnung von einer ganz anderen zukünftigen Lebensweise gegeben. Er traute nur seinen Sinnen und das war – wie es sich herausstellte – falsch.

 

Wäre es nun möglich, frage ich, daß wir in Bezug auf die andere Geburt, die Geburt aus dem Geiste, auch Zeichen haben, die wir in unserer Beschränktheit nicht zu lesen vermögen, weil wir nur an unsere Sinne glauben? Wäre es möglich, daß wir, wie Nikodemus, diese Zeichen nicht sehen, geschweige denn lesen können? Aber was für Zeichen wären das?

 

Hier glaube ich nun, daß es solche Zeichen gibt, die uns auf eine zukünftige Lebensweise vorbereiten, ja, ein ganzes System von Zeichen. Und vielleicht haben wir hier und dort schon etwas geahnt davon, aber nicht weiter beachtet. Denn es handelt sich bei diesem Zeichensystem um nichts anderes als um die Sprache.

 

Ich werde im folgenden versuchen, die Rolle der Sprache im christlichen Alltag aufzuzeigen. Vieles bei der Sprache ist horizontal. Wir müßen Wort an Wort reihen, Subjekt und Prädikat, und wir müssen in Sätzen sprechen. Das wahre Geheimnis der Sprache aber liegt nicht in ihrer horizontalen sondern in ihrer vertikalen Dimension. Die Sprache hat nämlich die Fähigkeit, uns von unten nach oben zu versetzen, vom Physischen ins Geistige.

 

Rein horizontal gesehen, also von der Zeit her, sieht es mit unserer Situation nicht so rosig aus. Denn am Ende der Zeit steht da immer der Tod. Und rein zeitlich gesehen, ist dann eben alles aus. Deshalb ist es für die Sinnfrage wichtig, neben dem horizontalen Zeitablauf auch eine Vertikale auf Gott hin zu erleben, ein Aufsteigen und gleichsam aus der Zeit Auferstehen. Diese vertikale Zeitdimension ist viel weniger bekannt.

 

Was verstehen wir unter der vertikalen Zeitdimension? Es ist eine Art Tiefendimension, die sowohl nach unten wie nach oben geht und mit unserer Sehnsucht zu tun hat. Haben Sie schon beobachtet, wie alles, was wir im Alltag erleben, von einem Erwartungshorizont, einem Wunsch – oder Ängsterahmen getragen ist? Dies wird besonders in der Sprache offenbar. Ist es nicht eigenartig, wie zum Beispiel jede Frage schon den Horizont einer Antwort in sich enthält. Fragen wie «Liebst du mich?», «Wo gehst du hin?», «Was ist denn mit mir los?» vollziehen sich immer innerhalb eines Erwartungsrahmen, der von Wünschen und Ängsten besetzt ist. Auch wenn wir nach Gott fragen, tun wir es schon immer aus einer Art Sehnsucht oder Hoffnung heraus, vielleicht skeptisch, oder aus Angst oder gar Verzweiflung, auf ein Wunder hoffend. Auf jeden Fall immer schon mit einer gewissen Erwartung. In diesem Sinne schreibt denn auch der heilige Augustinus im zehnten Buch seiner Bekenntnisse sehr treffend, daß er nicht nach Gott fragen könnte, wenn er ihn nicht schon irgendwie im Erwartungshorizont «gefunden» hätte.

 

Die Sehnsucht ist der grösste Erwartungshorizont, den Gott in uns gelegt hat, um uns seine Gegenwart anzudeuten. In unserer Sehnsucht läßt sich Gott finden als einer, der uns entgegenkommt wie der Vater dem verlorenen Sohn.

 

So dürfen wir uns denn fragen: wie steht es mit unserem Erwartungshorizont? Was erwarten wir vom Alltag? Wozu das alles? Warum geschieht mir dies oder das? Wozu dieses Leiden? Warum bin ich krank, wieso habe ich keinen Einfluß auf meine Kinder, warum endet alles – ob Freud oder Leid – mit dem Tod? Unsere Fragen, unsere Klagen, setzen sie nicht schon voraus, daß wir einen Maßstab des Glücks in uns tragen, den die Welt nicht erfüllen kann? Dieser Maßstab – wie schon der Philosoph Platon dachte – geht über die Welt hinaus und weist den Weg auf einen höheren Ursprung.

Und wenn wir solche Fragen stellen, was erwarten wir? Natürlich eine Antwort. Wir wissen aber alle, wie sehr Gott sich in Schweigen hüllen kann. Einerseits ist dieses Schweigen sicher auch eine Art Antwort, aber andererseits ist das Schweigen ein Hinweis darauf, daß Gott sein Schweigen immer schon gebrochen hat, daß er gesprochen hat – natürlich eben auf verborgene und geheimnisvolle Weise. Aber das Sprechen Gottes liegt vor. Ich spreche natürlich von der Bibel. In der Bibel spricht Gott von der Ewigkeit in diese Zeit hinein.


Die Bibel als Traumgeschehen
Sie erinnern sich vielleicht an Jakobs Traum im ersten Buch Mose (28, 10-22). Da lesen wir, daß Jakob auf seiner Reise von Beerscheba nach Haran an einem «bestimmten» Ort übernachtet. Er nimmt einen Stein als Ruhekissen und träumt den berühmten Traum einer Leiter oder Treppe, die auf der Erde steht und bis in den Himmel reicht. Engel steigen auf und nieder und oben steht Gott. Er spricht Jakob mit «du» an und schenkt ihm das Land, auf dem er ruht. Er verspricht ihm ewigen Schutz. Daraufhin erwacht Jakob, fürchtet sich und sagt: «Wirklich der Herr ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht. Hier is das Haus Gottes und das Tor des Himmels.» Er nimmt den Stein, auf dem er geschlafen hat, macht ihn zum Steinmal und übergiesst es mit Öl. Dann benennt er den Ort Beth-El, Haus Gottes.

 

Dieser Satz ist für mich ein Leitmotiv für den Sinn des Alltags. Wir erwachen inmitten unseres täglichen Geschehens und erkennen – vielleicht für das erste Mal: «Der Herr ist an diesem Ort, und ich wußte es nicht.»

 

Das wird uns im Traum gesagt. Die Bibel spricht oft von Träumen. Ja, man könnte sagen, die ganze Bibel ist eigentlich wie ein Traum. Einiges davon ist natürlich historisch, aber es ist wohl ganz klar, daß sie zur Hauptsache nicht als historisches Dokument gelesen werden will. Aber dann wie? Der Bibel gebricht es sicher nicht an Realismus. Die tiefsten Abgründe menschlichen Leidens, Grausamkeit, Bosheit, aber auch Herzensgüte, Opfer und Liebe werden da aufgedeckt. Wie soll man da nur zurechtkommen? Ich kenne viele Menschen, die können eigentlich mit der Bibel nicht viel anfangen. Sie läßt sich nicht aneignen. Sie scheint hoffnungslos aus einer anderen Zeit und anderen Denkgewohnheiten zu stammen. Da gebe ich dann oft den Rat, sie vom Traum her anzugehen, d.h. in ihr etwas Traumhaftes zu sehen, das beim Lesen in unser Bewußtsein einbricht. Und wie es bei Träumen der Fall ist, sie werden von uns nicht bewußt gemacht, müssen aber gedeutet werden, weil im Traum die physichen Vorgänge auf bildhafte Weise ein seelisches Erleben darstellen, also irgendwie allegorisch sind.

 

Und dann geschieht etwas Eigenartiges. Und dieses Eigenartige hat mit unserem Bewußtsein zu tun. Es ist doch auffallend, daß unser Bewußtsein sowohl über Vergangenheit und Zukunft nur im Jetzt denken kann. Für unser Bewußtsein ist es immer jetzt. Und immer hier. Wo immer wir uns auch befinden, für unser Bewußtsein sind wir immer hier, und so ist auch Gott. Und so ist auch die Bibel. Wenn wir die Bibel lesen, werden ihre Ereignisse in unser Bewußtsein hineingezogen, d.h. sie geschehen im Hier und Jetzt. Vor fast dreißig Jahren begegnete ich Friedrich Weinreb, der mir dies klarmachte. Seine Einsicht in die Bibel als Traumgeschehen war für mich bahnbrechend, obwohl ich die Bibel zuvor schon jahrelang in den Ursprachen studiert hatte. Es waren besonders zwei Dinge, die mir die Welt der Bibel neu eröffneten. Erstens, die Bibel ist – als Gottes Offenbarung - ewig. Deshalb spielt sich alles, was in ihr berichtet wird, nicht in einer fernen Vergangenheit ab, sondern immer im Jetzt. Sie kann das aber nur, wenn die Bilder, in denen sie spricht, zeitlose – also ewige – seelische Geschehnisse darstellen. Alle Ereignisse und Gestalten der Bibel dürfen so als Urbilder für unser eigenes Innenleben gedeutet werden. Die Frage, wie es «einst» war, geht am Wort Gottes vorbei. Denn die Bibel spricht zu uns immer im «Heute». Im Brief an die Hebräer heißt es: «Der Heilige Geist spricht: Heute, wenn ihr seine Simme hört, verstockt eure Herzen nicht,» (Hebräer 3,7). Jesus sagt: «Heute ist diesem Hause Heil widerfahren.» (Lukas 19,9) Immer heute, immer im Jetzt. «Heute» werden wir aus der Zerstückelung herausholt und wiederum ganz gemacht. «Heute» werden wir erlöst. Heute – und das ist doch der Alltag – wird uns das Geschenk der Begegnung mit Gott angeboten, selbst in unserer letzten Stunde auf dieser schönen Erde. Sagt doch Jesus zum Schächer: «Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.» (Lukas 23,43).

 

Gerade weil Gottes Wort aus der Ewigkeit in die Zeit hineinspricht, kommt es zu uns also wie ein Traum. Ich finde deshalb das Urbild vom Traum Jakobs charakteristisch für die Weise, wie die Bibel zu uns spricht. So steht der Traum Jakobs eigentlich für die ganze Bibel. Die Bibel ist eine Traumwelt, eine Leiter zwischen Himmel und Erde, der Ort, wo Gottes Welt und unsere Welt zusammenfallen. Wenn wir Jakobs Traum in der Jetzt-Form lesen, wird er zu unserem Traum. Wir sind die Träumenden. Es ist Nacht. Ein Stein ist unser Ruhekissen. Wir lassen uns zurückfallen ins Nichts der Nacht. Wir erblicken die Himmelsleiter. Was bedeutet sie? Engel steigen auf und nieder. Die Leiter sagt uns bildhaft, daß Gottes Ort und unser Ort zusammenfallen. Gott ist da, wo wir sind.Und wo wir sind, da ist auch Gott. Wir entdecken etwas Wunderbares in unserem Traumbewußtsein: Gott ist in uns. Und nun werden Jakobs Worte auch unsere Worte: Dies – nämlich unser Traumbewußtsein – ist in Wahrheit der Ort Gottes, und wir wußten es nicht. Hier, in meinem Bewußtsein – wie im Traum – begegne ich Gott. Dieser Ort ist heilig. Hier will ich ein Haus für Gott errichten, ein Beth-El.

 

So sieht es also aus, wenn wir Jakobs Traum als unseren Traum erfahren. Jakob, das ist der Trämer in mir. Mein Traumbewußtsein – an der Grenze zwischen Bewußtsein und Nichtbewußtsein – ist ein Haus Gottes. Sagt nicht auch Jesus zur Samariterin am Jakobsbrunnen: Jetztist die Stunde da, wo die wahren Anbeter den Vater weder auf einem Berge noch in Jerusalem anbeten, sondern im Geist und in der Wahrheit? Gott ist Geist und will im Geist angebetet werden. Im Geist, in unserer Seele, ist es aber immer jetzt und hier. Und die Seele geht wie eine Leiter von hier zum Himmel. Da, in unserer Seele, wohnt Gott, und wir wußten es nicht.

 

Dieses Wohnen ist überaus aufregend und geheimnisvoll. Denn es besagt nichts anderes als daß der unendliche Raum und die unendliche Zeit sich im Hier und Jetzt unseres Traumbewußtseins treffen. Gott ist unser Hier und er ist unser Jetzt. Und gerade das ist der Alltag, der sich im Hier und Jetzt abspielt. Hier, im Alltag, fallen der Ort Gottes und unserer Ort zusammen. Dies ist die Grundlage vom Sinn des Alltags. Gottes Zeit wird unsere Zeit, und der genaue Ort dieses Zusammenfallens ist unser Traumbewußtsein. Deshalb sprechen wir mit Jakob wie im Traume: Wahrlich, hier ist Gottes Ort, und ich wußte es nicht. Er, der Erhabene und Unendliche, wohnt ohne Unterlaß im Hier und Jetzt meiner alltäglichen Erfahrung.


Das Wort als Doppelraum
Wie kommt es nun zu dieser wunderbaren Koinzidenz? Gottes Ort wird unser Ort, sein Jetzt wird unser Jetzt. Ich glaube, all dies hat mit der Sprache zu tun. Im Anfang war doch das Wort. Das Wort ist eine Brücke zwischen Materie und Geist; es ist die Himmelsleiter in uns. Und das Wort macht alles doppelt. Ja, wie denn? Hier ist ein Beispiel: Ein physisches Greifen mit den Händen wird im Wort zum Zeichen eines geistigen Begreifens mit dem Verstand. Wir sagen zum Beispiel: «Hast du mich begriffen?» Wir können ein solches geistiges Greifen – ein Be-greifen – nicht verstehen, können es aber erahnen. Und wenn wir nun schon vom Verstehen reden, was hat das Ver-Stehen mit dem Stehen zu tun? Das Wort ermöglicht es, vom rein physischen Stehen her ein geistigen Stehen mitzuverstehen. Die beiden Arten von Stehen sind eng verbunden: Der Boden, auf dem ich stehe, wird zum Standpunkt, der anzeigt, wo ich geistig stehe.

 

Hier offenbart sich die vertikale Dimension des Wortes, in welcher der Sinn des Alltags zu suchen ist. Das Wort verbindet ganz natürlich die Erde mit dem Himmel. Wir sagen gewöhnlich: Der Sinn des Wortes wird übertragen, er wird zur Metapher. Aber hier öffnet sich gerade die vertikale Dimension, von der ich eingangs sprach. Die Sprache selbst steigt in der Übertragung vom Physischen zum Geistigen auf. Ein physisches Stehen im Raum wird zum geistigen Standpunkt, zu einem Stehen in der Idee. Und beide Arten von Stehen sind ineinander verschachtelt und zusammen ergeben den vollen Sinn von dem, was wir unter Stehen ver-stehen. Das volle Verständnis von «Stehen» ist also immer doppelt und beinhaltet zugleich ein physisches und seelisches Stehen.

 

Diese metaphorische Doppelstruktur des Wortes kann uns den Sinn des Alltags erschlüsseln. So schreibt denn Friedrich Weinreb auch:

 

«Woraus schöpft zum Beispiel das Deutsche, wenn es sagt, man
verstehe etwas? Wie weiß die Sprache, daß dabei unsere
Füße, unsere Beine, beteiligt sind, das Stehen also? Welche
Sprachkommission hat das so beschlossen? Und wer
begreift mit den Händen? Woher, wenn nicht vom Körper,
kommt dieser Begriff? Was hat das Herz im Körper mit
dem Hartherzigen und Warmherzigen zu tun? Woher die Rede,
daß man eine Nachricht zum Beispiel erst einmal verdauen
müsse? Und wenn man jemanden nicht riechen kann, dann muß
das nicht unbedingt an seinem Körpergeruch oder Parfum
liegen. Man ist gut oder schlecht gestimmt, weiß etwas bestimmt
oder ist manchmal verstimmt, ohne daß irgendwo der Laut einer
Stimme vernommen wird. Der Hartnäckige kann durchaus einen
geschmeidigen Nacken haben. Man trägt sein Schicksal und
erträgt Leute ohne physische Anstrengung.»
(Unser Körper, S. 14).

 

Wir sehen also: das Wort eröffnet einen Doppelraum, einen Weg vom Physischen zum Geistigen, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Diesseitigen zum Jenseitigen, eine Ganzheit, worin Leib und Seele harmonisch miteinander schwingen. Ein Wort wie «Herz» kann sowohl das leibliche Organ wie auch den «Sitz» der Liebe bezeichnen. Ein Wort wie «nahe» kann sowohl physische wie seelische Nähe bezeichnen. Ein Wort wie «Licht» kann uns eine Ahnung vom geistigen Licht geben, kann uns also eine Idee von geistiger Erleuchtung vermitteln. Das Wort «Wasser» kann sowohl physisches Wasser bedeuten oder auch geistigen Trank. So sagt zum Beispiel Jesus zur Samariterin am Jakobsbrunnen:

 

«Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder dürsten – wer
aber von dem Wasser trinkt das ich ihm geben will, wird in
Ewigkeit nicht mehr dürsten: vielmehr wird das Wasser, das ich
ihm geben will, in ihm zu einem Wasserquell werden, der
sprudelt zu ewigem Leben» (Joh 4,12-14)Hier sehen wir im Beispiel einer alltäglichen Begegnung mit einer Frau, wie Jesus, das Wort Gottes, im Element «Wasser» einen Weg vom sinnlichen Wasser zum geistigen Wasser eröffnet. Wir wissen, daß das sprudelnde Wasser den Durst löscht, uns reinigt und erfrischt. Und wir können von einem Wassser träumen, das den Durst unserer Sehnsucht löscht und, wie Jesus hinzufügt, «für immer», also ein Wasser, das nicht von Zeit und Raum beschränkt ist, sondern in der Ewigkeit lebt und von dort her uns im Wort zuströmt. Denselben Weg des Wortes «Wasser» aus der Zeit in die Ewigkeit finden wir auch im Psalm 42, der mit den berühmten Worten beginnt: «Wie der Hirsch nach frischem Wasser lechzt, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.» Der Durst nach Wasser wird hier zum Bild unserer unstillbaren Sehnsucht und zeigt den Weg in die ewige Seite unseres Menschseins. Was ich hier wichtig finde ist daß der physische Durst ein Verständnis für den Durst des Geistes erst ermöglicht. Andererseits ist es klar, daß wir schon immer im geistigen Durst daheim sind und ihn dann im physischen Wasser abgebildet finden.

 

Und dann ist da auch Mose, dessen Namen «der aus dem Wasser Gezogene» bedeutet. In diesem Mose, der vom Untergang im Fliessen der Zeit gerettet wurde, offenbart sich uns das Ewige der Thora. Im Wort «Wasser» treffen sich also das irdische und das himmliche Wasser. Im Wort – und damit in unserem Traumbewußtsein – fallen sie zusammen. Das heißt aber auch, daß sie im Alltag zusammenfallen. Wo immer wir dort mit Wasser zu tun haben, dürfen wir ein anderes Wasser miterleben.

 

Im Hebräischen heißt das Wort «tewa». Es ist das gleiche Wort, das auch «Arche» bedeutet, die Arche von Noah. Diese Arche, dieses Wort, rettet den Menschen vom Untergang im Wasser. Die Erzählung von der Sündflut ist also ein Urbild der Erlösung. Das Wort rettet uns vom einseitigen Tod in der Zeit, indem es uns eine Vertikale eröffnet und damit einen Ausblick auf Ewigkeit schenkt, und zwar schon in der Zeit. Im Wort schwingen Zeit und Ewigkeit harmonisch ineinander.


Die Verschachtelung von Sinneswelt und Geisteswelt
Von daher ist es auch leichter, das Gehen auf dem Wasser zu verstehen. Die Evangelien berichten, wie eines nachts, als die Jünger auf dem See hinüber nach Kapharnaum ruderten, und der Wind so heftig wehte, daß sie nur mit Mühe vorwärts kamen, Jesus plötzlich auf dem Wasser wandelnd auf sie zukam. Sie fürchteten sich sehr, er aber beschwichtigte sie. Als sie ihn in ihr Boot aufnehmen wollten, waren sie blitzschnell auch schon am Ziel angekommen (Johannes 6, 16-21). Ein Wunder, sagen wir. Aber die Wunder Jesu sind Zeichen, und wie wir gesehen haben, deuten sie auf eine geistige Wirklichkeit hin, die schon in uns lebt. Was heißt es dann für uns, im Alltag auf dem Wasser zu gehen? Das Wasser als ein Bild der Zeit ist ganz in Gottes Hand; sein Wille trägt den Strom. Wenn wir uns ganz diesem Willen hingeben, werden wir wie Mose aus dem Wasser gezogen und fangen an, auf dem Wasser zu gehen. Unsere Geistesauffassung ist dann so, daß wir über der Zeit stehen. Der Wille Gottes trägt uns mit seinem Wort. In ihm sind wir schon immer am Ziel angekommen. Dies wäre dann auch der Sinn der Auferstehung schon hier in der Zeit. Durch Gottes Liebe stehen wir über aller Zeit, über dem Wasser. Wir sind gerettet. Für alle Ewigkeit, schon jetzt, was immer uns auch zustoßen mag.

 

Im Beispiel des Wassers sehen wir, wie alles hier auf dieser Erde Erscheinende von woanders her, also vom Geistigen her, in unserer Welt erscheint. Alles ist Abbild, wie das auch Platon klar gesehen hat. Auch unser Körper, ja sogar alle Glieder und Organe unseres Körpers. Sie entsprechen Wort für Wort einer geistigen, ewigen, Wirklichkeit, die wir durch sie erahnen können. So wird unser Alltag vielschichtig. So wird er geheiligt. So tragen uns schon jetzt alle Dinge «hinüber», vom Physischen ins Geistige.


Die biblische Doppelwelt
Man kann also sagen, daß sich der Sinn des Alltags im Wort – und damit in unserem Bewußtsein – verdoppelt. Das Wort eröffnet eine Doppelwelt, die in der Bibel oft durch Doppelgestalten personifiziert wird, wie zum Beispiel in den Paaren von Kain und Abel, Esau und Jakob, oder auch von Josef und seinen Brüdern, oder etwa von den Schwestern Lea und Rachel, oder etwa die klugen und törichten Jungfrauen. Es handelt es sich hier immer um Bilder unserer eigenen inneren Doppelwelt. Gott erzählt in der Bibel immer auch mein je eigenes Drama. Der Kain in mir, und der Abel in mir. Bei einem solchen Paar handelt es sich nicht um ein Entweder-Oder, ich bin nicht entweder Kain oder Abel, sondern um eine Zusammenschau. Beide Seiten sind immer in uns. Zum Beispiel der Abel, dessen Name auf hebräisch «Nichts» bedeutet (ewel) ist jene verborgene Seite in uns, die umsonst liebt, ohne Berechnung, rückhaltslos, ohne Absicht. Abel ist die Unschuld selbst. Es ist also eine Seite, die wir oft umbringen, weil wir wie Kain nur ans Gesetz glauben, also nur ans quid pro quo, an das, was stimmen sollte, was man berechnen kann, ans Kausale. Oder nehmen wir Josef und seine Brüder. Nur zu oft befinden wir uns in der Situation dieser Brüder. Wir mißtrauen dem Träumer in uns, ja sind ihm neidisch. Der bunte Rock ist uns ein Dorn im Auge. Wir werden zu Totschlägern uns selbst gegenüber: «Dort kommt ja dieser Träumer,» sagen wir. «Jetzt aber auf, erschlagen wir ihn und werfen wir ihn in eine der Zisternen. Sagen wir, ein wildes Tier habe ihn gefressen. Dann werden wir ja sehen, was aus seinen Träumen wird.» (Genesis 37, 19-20). Es gibt also eine Seite in uns, die sich gegen den Traum des Jenseits wehrt, die den Träumer in uns erschlägt. Die Brüder sind jene psychologischen Faktoren in uns, die den Traum erschlagen oder wenigstens verkaufen wollen. Indem wir aber den Traum des Jenseits in uns verkaufen, verlieren wir auch die Welt. Josef der Träumer lebt beide Seiten, er erlebt dieses konkrete Leben hier von der Fülle der Ewigkeit her. Der Traum organisiert sein Leben. Und immer wenn wir versucht sind, den Traum aus unserem Leben zu verbannen, flüstert Josef uns zu: «Ich bin doch dein Bruder, ich bin ein Teil von dir, der dir zur Zeit der Dürre die wahre Nahrung gibt, dich von drüben her speist mit dem Brot des Lebens, das uns heil und heilig macht. Ich bin Gottes Geschenk. Ich bin die Doppelschau deines Lebens, das zugleich «hier» und «dort» ist. Ich bin irdisch-konkret und lebe zugleich den Traum der geistigen Welt.»

 

Josef ist der Bescheidene in uns, der seinen Alltag vom Heiligen her lebt. Das Leben vom Wort Gottes her erscheint hier als äußerste Bescheidenheit (hebr. anaw) und in der Armut des Nicht-um-sich-selbst-wissens (hebr. ani). Die Auserwählung kommt von woandersher, wie im Traum. Wir nehmen's wie's kommt. Es ist schon recht. Das kleinste Ereignis in deinem Leben hat seinen jenseitigen heiligen Sinn. Du kennst ihn vielleicht nicht. Gut! Sollst du auch nicht. Der Kern, die Hauptsache, muß verborgen bleiben.


Der Traum im Alltag
Wir sehen also, daß das Traumhafte des christlichen Sinnes unseres Alltags ganz natürlich in jedem Ereignis und in jeder Begegnung mitschwingt, wenn wir das Wort Gottes und seine spontane Doppelwelt zum Leitfaden nehmen. Der Josef in uns wird dann das Urbild eines Alltags, der ganz vom Heiligen, vom Verborgenen her, vom Jenseitigen her gelebt wird. Diese andere Seite in uns, die von Vollkommenheit träumt, ist meistens unbekannt und uns nicht einmal bewußt. Im Grunde handelt es sich hier um das Geheimnis des Leibes, der vom Jenseits her als Körper in dieser Welt erscheint. Unser physisches Leben erhält dadurch eine geistige Dimension. Und eben gerade diese Doppeldimension geschieht im Wort.

 

Die geistige Welt ist also ein Zwilling der physischen Welt, eine geheimnisvolle Doppelfigur. Daher auch der Mythos des Doppelläufers. In die metaphorische Dimension der Sprache eingetaucht, die uns spricht, sind wir immer doppelt. Wir erleben ein irdisches und überirdisches Leben. Wir leben Geschichte, aber auch Mythologie. Wer in beiden zugleich lebt, und zwar so, daß er von der geistigen Welt in die physische Welt hineinlebt, ist gesund, denn für den Gläubigen wird das Leben auf Erden vom Himmel her organisiert. Das Geistige zeigt sich im Physischen als Geheimnis, als Zufall, Einfall, Überraschung, als etwas, das wir nur erahnen, aber nie fassen können. Es ist verborgen, und wird uns nur im Kämmerlein des Gebetes offenbar.


Der Alltag als Anagogie
Wir haben gesehen, wie dank der Doppelwelt des Wortes schon einfache Element des Alltags eine innere Geisteswelt mit sich bringen. Vom Wasser zur Reinigung, von der Luft zum Atmen des Geistes, vom Essen zur Kommunikation mit der Welt. Alles wird zum Zeichen, so auch unser Körper als ganzer. Die Zeichen des Körpers, seine Organe, Haltungen, und Bewegungen, führen uns schon in diesem Leben anagogisch zum Leib des Himmels. Erde und Himmel formen so zusammen ein Ganzes. Getrennt sind sie einseitig und krank. Wir dürfen aber die Zeichen des Körpers auch im Hinblick auf die Zukunft erleben, als prophetische Zeichen. Dann verkündet der Körper den kommenden Leib der Verklärung, von dem uns Jesus auf dem Berg Tabor eine Vorkost gibt. Vom Berg Tabor her gesehen – also vom verborgenen Geheimnis der Verklärung her – deutet das körperliche Greifen auf ein verklärtes leibliches Greifen hin, das wir uns jetzt noch nicht vorstellen können, ein Greifen, in welchem unser Leib alle Wirklichkeiten umgreift. Das tun wir im Nichtbewußten schon jetzt; wir haben aber davon nur leise Ahnungen, wie etwa, wenn wir die ganze Schöpfung als heilige Eucharistie oder unseren Leib als Tempel Gottes erleben. Auch diese prophetische Wirklichkeit hat uns der Herr in seinem Alltag vorgelebt, sah er doch in seinem Leib den Tempel von Jerusalem.

 

Der Josef in uns zeigt uns, daß der Leib in unserem Körper als heiliges Geheimnis verborgen ist. Friedrich Weinreb hat oft davon gesprochen. Er hat ein ganzes Büchlein über das Verhältnis von Körper und Leib geschrieben (Unser Körper, 1987). In Vor Babel (1995) schreibt er zum Beispiel über den Mund:

 

«Der Mund ist ein Ausdruck des Himmels im Hier. Deshalb sagt
man im alten Wissen ohne viel Umstände: Der Himmel ist die
Oberlippe, die Erde ist die Unterlippe, der Oberkiefer hat mit dem
Himmelsgewölbe zu tun, der Unterkiefer mit dem Irdischen. Und
es geht noch viel tiefer, der Gaumen bis zur Kehle, all diese
Dingen haben Namen und Ort. Von allem wird gesagt, das soll
da oder da sein. Sogar im Himmel ist es da oder da, auch der
Abgrund ist da oder da. Der Mund ist ein Ausdruck im Menschen,
der mit dem Ganzen der Schöpfung zu tun hat. Und es ist eine
sehr wichtige Stelle, denn durch ihn hindurch kommt das, was
durch die Nase hineingeblasen wird, der Atem, mit einer Form
zurück. Der Mensch tut etwas, wovon er nicht einmal weiß, warum
er es tut und wie er es tut. Es heißt, daß das Sprechen des
Menschen ein Sprechen ist, das ihm gegeben ist, so wie die
Sprache ihm gegeben ist. Und daß er falsch denkt, wenn er
denkt, er sei es, der einen Satz bildet. Das scheint ihm ja
nur so, er bildet es sich ein. Er bildet den Satz nicht. Selbst
wenn er Dummheiten äußert, hat er Kontakt mit anderen Welten,
dämonischen Welten dann, die ebenfalls durch ihn
hindurchsprechen.» (Vor Babel, S.125)

 

Wir sehen im Spiel der Lippen ein Gleichnis für den Alltag. Wenn die Oberlippe mit der Unterlippe im Hauch des Sprechens verbunden ist, spiegelt sich ein Bild, wo oben und unten durch das Wort harmonisch aufeinander eingestimmt sind. Die Oberlippe, der Himmel, braucht die Unterlippe, die Erde – und umgekehrt – um das Sprechen zu ermöglichen, das für die Schöpfung im Wort steht. Der Hauch des Himmels wird im Dunkel des Mundes von unserer Zunge zum schöpferischen Wort artikuliert. So wird der Alltag sinnvoll, wenn «oben» und «unten» im selben Wort zusammenspielen. Sind wir uns im Alltag dieser symbolischen Tiefe unseres Sprechens bewußt? Wohl kaum oder selten, aber diese Beziehungen werden am besten vom Nichtbewußten her gelebt, also in der Form von Eingebungen, blitzartigen Einsichten oder Ahnungen, die sich im Hintergrund unseres alltäglichen Bewußtseins abspielen. Dennoch steht fest: wenn unser Alltag von diesen Ahnungen durchzogen ist, wir im Alltag von der verborgenen Ewigkeit her leben und in diesem Sinne das Geheimnis von Tod und Auferstehung schon jetzt erleben dürfen. Denn «sterben» bedeutet dann, aus der nur-fließenden Zeit herausgeführt werden zum Standpunkt der Ewigkeit. Und «auferstehen» ist dann ein über der Zeit im Unsichtbaren stehen, im Glauben, in der Hoffnung, und in der Liebe.

 

Wenn wir uns nun fragen, woher dieses Stück Ewigkeit in unseren Alltag hineinfließt, dann gelangen wir vielleicht schnell zur Einsicht, daß es die Sprache ist, die uns «rüber» holt, vom Sichtbaren ins Unsichtbare und zurück ins Sichtbare. Auf hebräisch heißt Sprache «Ufer» (safa). Sie öffnet den Alltags zu einer anderen Dimension, die den Alltag durchdringt. Diese andere Dimension ist unsichtbar, ist aber ganz im alltäglichen Geschehen verankert. Der Alltag wird so zum Zeichen einer unsichtbaren Wirklichkeit und wir sagen dann, daß die Erde uns den Himmel nahe bringt. Von daher können wir von einer Semiotik des Alltags reden, das heißt, der Alltag ist eine Zeichenwelt, wo jedes Ereignis seinen Doppelgänger, seinen verborgenen Sinn im Ewigen hat.


Die Rolle der Rahmenerzählung
Der Ort, wo diese Zeichen gedeutet werden, ist die Bibel. Sie ist in ihrer Ganzheit die umfassende Rahmenerzählung, die den Sinn für den Alltag stiftet. Um dies zu verstehen, müssen wir uns über die Rolle von Rahmenerzählungen im klaren sein. Der Sinn der Dinge hängt von diesen umfassenden Rahmen ab. Zum Beispiel eine Krankheit. Sie kann als Prüfung Gottes gedeutet werden oder einfach als Zufall; sie kann sinnlos sein oder einen inneren Sinn entwickeln, je nach der Perspektive, in der sie erlebt wird. Und oft sind es mehrere Perspektiven zu gleicher Zeit. Der Krieg in Iraq kann als Selbstverteidigungskrieg der Amerikaner gedeutet werden, oder als gewaltsame Absetzung eines Tyrannen im Dienste der Demokratie. Oder eben auch als Mittel der langfristigen Erdölstrategie und Energieplanung. Oder noch als gesetzwidrige Einmischung einer Aussenmacht in die internen Angelegenheiten eines souveränen Staates. Oder schliesslich als Mittelglied im globalen Kampf gegen den Terrorismus. Sie sehen, wie diese Rahmenkonzepte dem Krieg einen «Platz» anweisen, d.h. ihm einen Sinn in einem größeren Gesamtzusammenhang zu geben suchen.

 

So ist es natürlich auch mit dem Alltag. Auch da, meist unbewußt, erleben wir Dinge und Ereignisse im Rahmen unserer Perspektiven, unserer je persönlichen Mythologie. Die Frage ist nun: woher nehme ich diese Mythologie? Was sind für mich die ausschlaggebenden Perspektiven? Vielleicht ist es hier am Platz, uns an unsere Kindheit zu erinnern.


Unsere persönliche Mythologie
Schon ganz kleine Kinder zeigen uns klar, wie der Alltag immer innerhalb einer Geschichte erlebt wird, die wir uns innerlich – und oft ganz unbewußt – erzählen. So steht etwa mein Vierjähriger vor ein paar Spielzeugen, die er gesammelt hat. Es ist ein gewöhnlicher Tag, aber mein Sohn macht ihn mit seiner Einbildungskraft zu seinem Geburtstag. Es sind gewöhnliche Spielzeuge, aber er macht sie zu Geschenken. Und ich denke: Können nicht auch wir jeden Tag zum Geburtstg machen? Und ist – wenn wir an Nikodemus denken – nicht auch das Wort «Geburt» wiederum doppeldeutig? So stellen doch auch wir die Ereignisse des Alltags immer in den Zusammenhang einer eingebildeten Geschichte und geben ihnen so eine gewisse Bedeutung, die sie ohne diese eingebildete Geschichte nicht haben würden. Wir alle bewegen uns in unserer eigenen persönlichen Mythologie. Und gerade so sind alle Ereignisse unseres Lebens vom Mythos durchwebt.

 

Mit meinem vierjährigen Knaben zu essen, ist schon immer ein Abenteuer. Da sitzt er, und Gabel und Löffel werden in seinen Händen zu Schwertern. Hier wird ein Kampf zwischen Gut und Böse ausgetragen. Sehr zur Besorgnis der Eltern verwickelt er sein Essen in eine Kampfszene, bis die Eltern schließlich eingreifen müssen und sagen: «Ja, so iß doch mal endlich. Gabel und Löffel sind nicht zum Spielen da.» Aber, so denke ich, ist es nicht so, daß auch für uns Erwachsene der Alltag sich immer in irgendwelche Geschichten einbettet, die wir – halb unbewußt, halb bewußt – uns innerlich vorstellen? Selbst wenn wir scheinbar gedankenlos in den Tag hineinleben, im seelischen Hintergrund unseres Bewußtseins spielen sich immer irgendwelche Geschichten ab. Die Frage ist dann nur die: was für Geschichten sind es? Sind sie langweilig, deprimierend, streßerzeugend? Oder sind es Geschichten der Freude, des Friedens, der Liebe? Haben wir nicht dann und wann das selige Gefühl, wie süß das Leben ist, wie kostbar, wie unendlich geheimnisvoll? Oder müssen wir zuerst mit einer Todeskrankheit bedroht werden, um das Leben wieder richtig zu schätzen? Worum geht es uns eigentlich? Um Geld? Um Genuß? Um Macht? Um Prestige? Um Überleben? Das Wort Gottes ist hier eindeutig. Im Leben geht es nur um eines. Es geht um die Liebe. Und Gott schenkt uns hier die Wahl.

 

Der heilige Thomas von Aquin erinnert uns, daß es für das Herz ebenso natürlich ist zu lieben wie es für ein Stück Holz natürlich ist, zu brennen. Der Alltag als Liebesgeschichte. Ich meine, gerade hier kommt uns die Doppelwelt der Sprache zu Hilfe. Das Essen wird von uns wohl nicht wie vom Vierjährigen als Kampfszene erlebt, wohl aber als Kommunion mit der Welt als ganzer, ihren Leuten, Produkten, Arbeiten und Sorgen. Die Mahlzeit ist ein Ausruck des Übergangs von einer Welt in die andere. Im täglichen Essen zelebrieren wir unsere Solidarität mit der ganzen Schöpfung. Wir erleben uns als Zusammengehörende. So wird das Brot, das wir essen, zum Brot des Lebens. Also auch hier wiederum der tiefe mythologische Sinn: alles «mündet» beim Essen in den Tod: durch den Mund geht das Brot in den Tod durch die Zähne. Aber auch dieses Sterben dient dem Leben. Nur durch den Tod des Brotes in unserem Mund bleiben wir am Leben: wahrhaft ein Brot des Lebens. Und auch «Leben» ist hier natürlich wieder doppeldeutig.

 

Auch für Jesus war die Doppelwelt des Alltags an der Tagesordnung. Ich denke an die bemerkenswerte Stelle im Johannes Evangelium wo Jesus mit der Samariterin am Jakobsbrunnen ins Gespräch kommt. Wir sind schon auf diese Stelle gestoßen, als wir vom geistigen Sinn des Wassers sprachen. Mit der Speise ist es ebenso. Die Jünger kommen nach dem Einkaufen zu Jesus und laden ihn zum Essen ein. Seine Antwort ist überraschend. Er sagt: «Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt. Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vollenden» (Joh 4,32-34). Jesus selbst also benutzt das Bild der physischen Speise, um darin einen anderen, übertragenen Sinn, zu leben. Der Wille seines Vaters ist ihm tägliche Speise. Und wie zeigt sich ihm dieser Wille? In den täglichen Begegnungen. Von diesen Begegnungen lebt er. Die Begegnung mit der Samariterin ist seine Mahlzeit. Wie sollen wir das verstehen? Ist es nicht so, daß Jesus seinen Alltag so lebt, daß in jeder Begegnung, in jedem Ereignis, der Wille seines Vaters auf ihn zukommt? Das ist seine Speise. Der Alltag wird im Doppelsinn der Nahrung zur Begegnung mit Gott. Wir essen, aber nicht nur physisch, wir essen zugleich metaphysisch. Diese Doppelheit verdichtet sich in der Mahlzeit. Alles, was wir physisch in uns aufnehmen, wird zum Anlaß, all das in uns aufzunehmen, was uns Gott im Alltag gerade zuschickt. So wird uns der Alltag zur Speise, und die Speise wird uns zum Heiligungsmittel. In jedem Menschen begegnen wir Jesus selbst, der von sich gesagt hat, er sei das Brot des Lebens. Also auch er, als Wort Gottes, ist unsere Speise. Wir werden so im alltäglichen Geschehen von Gott für den Himmel ernährt und großgezogen.

 

Aber gerade hier ist meines Erachtens der wundeste Punkt unserer täglichen Erfahrung: der Wille Gottes. Wir sehen soviel Unglück und Leid in der Welt und haben selbst unser eigenes Bündel von Sorgen und Krankheiten zu ertragen. Wie kann man denn solche Dinge von der grenzenlosen Liebe Gottes her erfahren? Sind wir da nicht überfordert, wenn wir ehrlich sein wollen? Wer fühlt sich denn schon geliebt, wenn er mitten im Leben durch eine todbringende Krankheit von einer noch jungen und von ihm abhängigen Familie hinweggerafft wird? Und was haben Kriege, Hungersnöte und schreckliche Naturkatastrophen mit der Liebe Gottes zu tun? Wie das Buch Job zeigt, gibt es auf diese Fragen keine Antworten. Da kann man nur mit Tränen auf das Vor-Bild schauen, das uns Gott selbst von seiner Liebe gegeben hat. Und dieses Vorbild ist Jesus. Ich denke hier ganz besonders an den Garten Gethsemane, wo wir etwas von der Todesangst Jesu miterleben dürfen. Auch Jesus erhält keine Antwort auf seine Frage nach dem Warum, auf hebräisch lemà: Eli, Eli, lemà sabachhtani? «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Mt 27, 46). Auch für ihn ist der unbegreifliche Wille Gottes letzte Instanz. Hier wird der Wille Gottes als tägliche Speise plötzlich zum tödlichen Trank: «Vater, wenn es dein Wille ist, nimm diesen Kelch von mir. Aber nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.» (Lukas 22,42). Die Liebe siegt hier über das Wissen. Ist diese äußerste Angstsituation nicht im Grunde genommen auch die unsere, wenn Gottes Wille gegen unseren Willen in unser Leben eingreift und uns unverständliches Leiden schafft? In der Passion Jesu erfordert der Wille des Vaters das letztmögliche Opfer, und obwohl sich alles in Jesus dagegen sträubt, beugt er sich dem unerforschlichen Willen. Er läßt sich fallen, und zwar aus Liebe, nicht aus Resignation.

 

Rilke hat es verstanden, dieses Fallen in seiner sprachlichen Doppeldeutigkeit uns nahe zu bringen:


HERBST

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
Unendlich sanft in seinen Händen hält.
(1998: 346-347)

 

Mich hat es immer aufs tiefste betroffen, wie Psalm 22 und 23 im Psalterium Seite an Seite stehen. Der zweiundzwanzigste Psalm spricht von tiefster Gottverlassenheit: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien. . .» Aber der darauffolgende dreiundzwangstigste Psalm ist einer der schönsten Gesänge inniger Gottverbundenheit: «Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. . .» Beide Realitäten, Karfreitag und Ostern, sind Teilrealitäten. Sie gehören zusammen – denn Einer hält sie in seinen sanften Händen – wir dürfen sie nie getrennt erfahren. Diese zwei Psalmen durchmessen die ganze Tiefe, Höhe, und Breite unseres Alltags und zeigen zusammen den Weg des Alltags, der immer ambivalent bleibt, also immer Doppelschau, Vielschichtigkeit, Geheimnis. Hier hilft kein Wissen, hier kann nur die Liebe die zwei Seiten zusammenhalten.

 

Friedrich Weinreb hat einmal geschrieben:

 

«Du kennst nur zwei Seiten bei dir, nur Leid oder Glück; die dritte
ist dir noch verborgen. Und weil du diese dritte Seite nur erfahren
wirst, wenn du beide Seiten des Widerspruchs durchlebt hast,
sollt du verstehen, dass dein Glück ein Leiden, ein Opfer zur
Grundlage hat. Diese Welt kann nur sein, und auch die Erlösung
kann nur sein, weil ihre Grundlage ein Opfer ist. Schon daß Gott
diese Welt überhaupt macht, ist ja ein Opfer»(Die jüdischen
Wurzeln des Matthäus Evangeliums, S. 187).

 

Das Dritte, das wir noch nicht sehen und wissen, ist der Wille Gottes.


Das Gebet des Alltags
Der Wille Gottes, von dem wir uns im Alltag ernähren, gibt uns zugleich einen Hinweise auf die Rolle des Gebetes. Das Gebet im Alltag besteht nicht so sehr aus Worten, die der Körper spricht, sondern aus einer Stimmung, die vom Leib herkommt. Schon Jesus warnte davor, beim Gebet viele Worte zu machen. Das wäre – sagte er – heidnisch und «heidnisch» bedeutet in der biblischen Sprache, von etwas nur die Außenseite – die sichtbare Seite – zu erfassen: «Plappert nicht, wenn ihr betet, wie die Heiden» sagt er, «die meinen, erhört zu werden, wenn sie viele Worte machen. Tut es ihnen nicht nach! Euer Vater weiß ja, was ihr braucht, schon ehe ihr ihn darum bitten» (Mt 6, 7-8). Es geht also nicht darum, Gott über unseren Zustand zu informieren, sondern vielmehr, mit ihm in Beziehung zu treten. Und dies ist eine Sache des ganzmenschlichen Gestimmtseins, des Ausgerichtetseins auf den Willen Gottes, so wie er im Alltag auf mich zukommt. Das «Dein Wille geschehe» des Vaterunsers entspricht dieser Entschlossenheit, alles, was mir jeden Tag beschert wird, als Gottes Willen anzunehmen, ihn in mich aufzunehmen wie eine Speise, die in mir das göttlichen Leben nährt. Brach nicht auch der Engel Gabriel in Marias Alltag hinein – sehr zu ihrem Schrecken – und war nicht ihre Antwort of seine unfaßbare Botschaft ein schlichtes: «Es geschehe mir nach deinem Wort» (Lk 1,38)?

 

Jedes Ereignis des Alltags – sei es in unseren Augen auch noch so unbedeutend – hat deshalb seine andere geistige Seite, die auch ihren Platz in unserem Bewußtsein haben will. Unter den Philosophen war es besonders Immanuel Kant, der betonte, daß sich das menschliche Leben in zwei grundlegenden Dimensionen abspielt. Wir können uns immer gleichzeitig von zwei Standpunkten aus betrachten, einmal als zur Sinnenwelt gehörend, also zur sichtbaren Welt, als Phänomene, dann aber auch als reine Gedankenwesen, als einer unsichtbaren Welt angehörend (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 108, 109). Sinnenwelt und Geisteswelt sind bei uns immer ineinander verschachtelt und zeigen sich in dieser Doppelheit in der Doppelheit der Sprache. Das Wort «Wasser» zum Beispiel, führt uns, wie wir gesehen haben, von der Sinnenwelt in die geistige Welt, die wir nur dunkel erahnen können. Das Wort «Wasser» erlebt in uns eine Art Auferstehung aus der physischen Hülle. Es steht in uns auf, wird aus Raupe zu Schmetterling, steht über der Zeit, und schenkt uns so eine Vorkost des Himmels. Die Sprache feiert in uns eine beständige Himmelfahrt. Wir ahnen das Glück, das uns noch bevorsteht und so werden irdische Elemente wie «Wasser» und «Licht» auch prophetisch, indem sie uns von einer künftigen Wirklichkeit eine Vorahnung schenken, von der wir jetzt bloß träumen können.


Die Semiotik des Alltags
Bedenken wir noch einmal die Grundfragen unseres Themas. Wie erschliessen uns die Erlebnisse des Alltags einen Einblick in den Himmel? Wie verwandelt sich die Monotonie des alltäglichen Lebens zu einer Symphonie der Ewigkeit? Unsere Antwort darauf war eigentlich einfach: Es geschieht durch die Sprache und ihre metaphorische Doppelwelt innerhalb der alles umfassenden Rahmenerzählung der Bibel. Das biblische Wort eröffnet zwei Welten, zwei Ufer, die im selben Wort sowohl getrennt wie auch verbunden sind. Darin bewegt sich der oft träge Fluss unseres Alltags.

 

Nehmen wir zum Beispiel das schöne Wort «nahe». Es tönt im Wort «Nachbar» mit und besagt erst einmal eine physische Nähe. «Ich bin dir nah» in diesem Sinne heißt «Ich sitze neben dir, ich berühre dich.» Aber zugleich geht uns eine andere Seite von «Nähe» auf, eine übertragene Nähe. Im Gespräch kommen wir uns einander näher, obwohl wir vielleicht physisch weit entfernt sind. Wie steht es mit diesem geistigen Nahesein? Verstehen wir es? Wir sagten eingangs, Gott ist uns nahe; Gottes Ort ist unser Ort. Aber ist es nicht schwierig, diese geistige Nähe in Worte zu fassen, obwohl wir sie sehr intensiv verspüren? Was heißt hier Ort, wenn es sich um Gottes Gegenwart handelt? Wie berührt er uns? Es ist, als ob es eine andere Form von Leiblichkeit gäbe, eine geistige, für die wir kein direktes Sensorium haben, die aber unsere Sinnlichkeit ins Geistige erhöht, wie das vielleicht der heilige Augustinus am deutlichsten verspürte. In diesem Sinne kann man also von einem Auferstehen im Worte sprechen, wenn – wie Augustinus oft betont – uns im gewöhnlichen, alltäglichen Sinn der Worte eine höhere Dimension aufgeht. Wir werden gleichsam emporgezogen – vertikal – und und mit dem Geistigen in Verbindung gebracht.

 

So wie das Sprechen nicht vom Menschen kommt, sondern ihm eingegeben wird, so fließt auch sein ganzes Leben vom Mund Gottes her in diese Welt hinein und kehrt im Tode wieder heim in den heiligen Mund, von dem es ausging. Die jüdische Überlieferung berichtet, dass Mose, als er starb, von Gott geküßt wurde. Von der Bibel her wird ersichtlich, daß der eigentliche Biograph unseres Lebens das Wort Gottes ist. Wir sprechen zwar, aber Gott spricht uns. Und wenn Gott unser Biograph ist, ist er zugleich unser Hagiograph, denn Gott kann uns nur ins Heiligsein hineinsprechen. In diesem Sinne dürfen wir wohl die Gleichnisse und Ermahnungen Jesu verstehen, die uns nahelegen, uns nicht zu sehr um Materielles zu kümmern, weil selbst die Haare auf unserem Haupt gezählt sind.

 

Wir haben also eine Antwort auf die grundlegende Frage, weshalb es gerade das Wort ist, das uns Zugang zum Ewigen in uns ermöglicht. Die Antwort besteht in der Doppelwelt des Wortes. Um wieder auf den Jakobstraum zurückzukommen: das Wort ist die Leiter in uns, die Himmel und Erde verbindet. Darauf steigen die Engel auf und ab. Das heißt, es gibt eine Beziehung im Wort, die uns vom bloß Historischen ins Ewige aufsteigen – aber auch vom Ewigen her ins Geschehen der Welt einwirken läßt. Wenn das Wort in uns seine geistige Seite erleben darf, dann sind wir auch für andere Menschen der Ort, wo sie vielleicht etwas von Gott verspüren können. Und umgekehrt, wir dürfen in anderen Menschen diesen Ort ansprechen.

 

Darum sind jene, die die Bibel nur als historisches Dokument lesen, einseitig und werden in diesem Sinne krank. Andererseits, wer sie nur als Mythos betrachtet, verliert den Boden unter den Füssen und ist auch krank. Vielmehr ist die Bibel beides: im Wort hat sie einen immerwährenden geistigen Sinn, der aber im historischen Boden verankert ist, obwohl das Historische an sich nie wichtig erscheint. Das Wichtigste bei der Bibel ist immer die erlösende Wirkung, die sie in jedem Menschen im «Jetzt» erzeugt. Von allem in der Bibel kann man sagen: «Das bist du.» So schreibt zum Beispiel Beatrice Bruteau, eine amerikanische Theologin:

 

«Wir sind es, die bei der Taufe Jesu von der Stimme
angesprochen werden, die sagt: «Du bist mein vielgeliebtes Kind.
In Dir habe ich mein Wohlgefallen.» Und wenn wir dies wirklich
hören, dann werden wir in eine Wüste getrieben, wo wir mit der
Frage kämpfen müssen, was das bedeutet und was die Folgen
davon sind. Und schließlich werden wir finden, was schon durch
unsere Geburt angedeutet wurde, daß wir in einer Krippe liegen
als Nahrung für die Welt.» (Radical Optimism, S. 59)

 

Die Stimmen der Bibel, haben wir gesagt, sind Stimmen unserer Innenwelt. Die Elemente, die in der Bibel erwähnt werden, sind geistige Elemente, die zugleich hier ein physisches Dasein haben. Jeden Tag haben wir mit Licht, Feuer, Brot, Wein, und eben auch Wasser zu tun. Diese alltäglichen Dinge ziehen uns in der Leiter des Wortes empor zum Himmel. Wir werden, wenn wir die Bibel lesen, aus dem Wasser herausgezogen wie Moses, der ein Zaddik Gottes ist, ein Heiliger. Darüber schreibt Herr Weinreb:

 

«Ich habe Sie schon darauf hingewiesen, daß der Begriff Zaddik
für den unübersetzbaren Begriff «Heiliger» gebraucht wird. Es ist
schwierig zu definieren, was das ist. Es ist etwas, das mit «heil» zu
tun hat, aber es ist dasjenige, was den Menschen aus der Zeit
herauszieht und sagt: Es gibt auch noch etwas Anderes. Es
existiert etwas ganz anderes, etwas mit ganz anderen
Maßstäben. Die Gesetzmäßigkeiten des Wassers stimmen dort
nicht mehr. Du dachtest im Wasser ist Gesetz, daß man Wasser
schlucken muß. Man hat dann Kiemen usw., wie wir auf der
Schule gelernt haben. Das Wasser strömt hindurch und dadurch
lebst du. Und wenn du aufs Trockene kommst, stirbst du, so wird
dir beigebracht. Aber dieser Zaddik sagt: Nein, dort lebst du
wirklich, ich werde dich aus dem Wasser holen. Du zappelst und
hast nicht die geringste Lust, aus dem Wasser zu
herauszukommen. Aber du wirst doch aus dem Wasser geholt.
Der Zaddik macht der Zeit ein Ende. In jeder Hinsicht wird so
etwas vom Zaddik erzählt. Auch in dem Sinne, daß er Menschen
von dem Wahn befreit, die Gesetzmäßigkeiten hier seien alles.
Es gibt auch andere Gesetzmäßigkeiten.»
(Vor Babel, S. 126).

 

Jenseits des Wassers, jenseits des Flusses unseres Alltags, zeigt der Heilige, der Zaddik, also auf eine andere Gesetzmäßigkeit, wo wir wirklich leben, wo wir eins sind mit Elohim, dem Einen. Durch die wunderbare Kraft des Wortes können wir diese Einheit erleben.

 

Eine alte jüdische Geschichte erzählt – und ein Echo davon findet sich auch bei Platon – wie der Adam Kadmon, der ursprüngliche Mensch, ganz war, das heißt, das volle Bild Gottes in sich enthielt. Dieses Urbild wurde aber durch die Zeit zertrümmert und machte alle Menschen zu Fragmenten, die nun den Sinn ihrer Lebenszeit darin sehen, die Ganzheit ihres Gottesbildes wieder zu suchen. Es ist, als fehlte ihnen in der Zeit die andere Hälfte, die Ewigkeit.

 

Eine ähnliche Geschichte gibt es über den Ursprung des Wortes «Symbol», das vom griechischen «symballo», «zusammenfügen», kommt. Wenn Inizianten eines griechischen Mysterienkultes sich voneinander trennten, zerbrachen sie eine Tonscheibe und jeder nahm eine Hälfte mit sich. Später, wenn sie sich wieder trafen, oft unter Verkleidung, wurden die beiden Hälften als Erkennungszeichen wieder zusammengefügt. Die beiden zusammengefügten Hälften machten dann das ganze «Symbol» aus. In diesem Sinne haben wir zum Beispiel anfangs betont, daß der Ort Gottes und unser Ort im Alltag zusammenfallen. Heiliges und Profanes werden im Symbol eins. Diese Einswerdung ist das Geheimnis des Alltags: eine heilige Koinzidenz von Irdischem und Himmlischem.

 

Ein Symbol ist ursprünglich ein aus zwei Hälften bestehendes Erkenntniszeichen. In Bezug auf das Urbild des Menschen bestehen die zwei Hälften aus Bewußtem und Nichtbewußtem, und der Mensch hat nun in diesem Leben die Aufgabe, diese zwei Hälften zusammenzufügen, also in diesem Sinn zum Symbol zu machen. Wie tut er das? Gerade dadurch, indem er sich auf seinem zeitlichen Weg vom Ewigen überraschen läßt, das sich ihm von seinem Nichtbewußten her schenkt. Das bedeutet aber wiederum, daß er lernt, sein Leben nicht nur rein zeitlich historisch als «Biographie» zu betrachten, sondern es auch vom Ewigen her als «Hagiographie» zu erleben, als Heiligenleben.

 

Wie wir gesehen haben hat diese Doppelfigur alles mit dem Wort Gottes zu tun, und deshalb wurde Weinreb nicht müde, zu betonen, daß jeder Augenblick in der Zeit auch zugleich ein Moment der Ewigkeit ist. So schreibt er etwa zu anfang seines Traumlebens:

 

«Ist, wenn ich in Gottes Bild bin, nicht alles auch abhängig von mir
und meinem Tun? Der Moment jetzt ist genau so wichtig wie die
Ewigkeit, ja, ist Ewigkeit. Muß nicht, wenn ich der Eine bin und
Einheit in mir lebt, das Jetzt geschehen? Sage doch nicht:
«Irgendwann werde ich es tun», sondern spüre: «Wenn nicht jetzt,
wann denn? Und wenn nicht du, wer denn?» Das sind große
Fragen der Überlieferung, wörtlich gleich im Hebräischen wie im
Sanskrit. Du bist am Ende des Weges doch alles; alle
Begegnungen – das warst du doch selbst. Warum also nicht
jetzt? Warum also nicht du?» (Traumleben, Band I, S. 85)

 


Von selbst
Und nun zum Schluss ein Wort für jene, die vermuten, es könnte zu anstrengend sein, im Alltag in den Doppelsinn der Sprache einzusteigen. Aber da braucht es gar kein Einsteigen. Das tut die Sprache von selbst. Von selbst bringt sie die Doppelfrucht in uns hervor, wenn wir sie nur sprechen lassen. Von Markus stammt das einzigartige Gleichnis vom Sämann, der ausgeht, den Samen zu säen. Der Samen fällt in die gute Erde – der Sämann geht nach hause. Und nun fängt sie Erde «von selbst» an, die gute Frucht hervorzubringen. All dies wird vom Sämann nicht bewußt erwirkt. Es kommt einfach so, «von Natur aus.» So muß auch bei uns nur der Zugang zum Ewigen geöffnet werden, dann fängt die Quelle zu strömen an, dann leben wir aus dieser Quelle. Lassen wir deshalb den Samen des Wortes herein. Dann wird alles «von selbst» geschehen, dank der wunderbaren Schöpferkraft Gottes. Nichts könnte natürlicher sein. Hören wir das Wort Gottes:

 

«Mit dem Reich Gottes ist es, wie wenn ein Mann den Samen auf
die Erde sät, und mag er nun schlafen oder wachen, bei Nacht
wie bei Tag sproßt der Same und wächst empor, wenn er es
auch selbst nicht weiß: von selbst bringt die Erde Frucht, erst den
Halm, dann die Ähre, dann volles Korn in der Ähre, und sobald
die Frucht es zuläßt, legt er alsbald die Sichel an, weil es
Erntezeit ist.» (Markus 4, 26-29)

 

Die Sprache wirkt ihre Sinnstiftung von selbst, wenn wir es zulassen. Als doppelräumige stiftet sie eine amphibische Wirklichkeit, steht sie doch mit einem Fuß auf dem Boden des Physischen, der Sarx, wie der Evangelist Johannes sagt (Joh 1, 14) und mit dem andern auf dem «Boden» des Geistigen, des Pneuma. Sie ist die Himmelsleiter. Ihre Worte sind Zeichen, die mitten im Alltag auf eine himmlische Wirklikeit hinweisen, die als Zeichen schon in diesem Leben anwesend ist. Die Frage ist nur: können wir die Zeichen lesen? Oder gleichen wir eher dem eingangs erwähnten Embryo, der nur seinen Sinnen traut, obwohl ihm die Organe seines Körpers laut und klar eine zukünftige Lebensform vorzeichnen. Er kann diese Zeichen nicht lesen. Können wir – analog im Irdischen befangen – die Zeichen jenes «Organs» lesen – also des Wortes – das uns im marianischen Mutterschoß zur Wiedergeburt geschenkt wurde? Können wir im Wort zum Himmel aufsteigen? Jetzt und heute? Jeden Augenblick? Wenn ja, dann hätten wir etwas von der Gunst erfahren, die uns den Sinn des Alltags erahnen läßt.


Literaturhinweise
Bruteau, Beatrice

Radical Optimism. Practical Spirituality in an Uncertain
World. Boulder, CO, 2002. Sentient Publications.
(Meine Übersetzung).

Kant, Immanuel
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Frankfurt am Main.
1997. Suhrkamp.

Rilke, Rainer Maria
Die Gedichte. Frankfurt am Main, 1998. Insel Verlag

Rumi
The Essential Rumi, ins Englische übersetzt von
Coleman Barks. San Francisco 1995, Harper Verlag

Weinreb, Friedrich
Traumleben. Überlieferte Traumdeutung, Vier Bände.
Weiler im Allgäu, 1979. Thauros Verlag

Unser Körper und seine Organe. Leiblichkeit als Ausdruck
des ewigen Menschen.
Weiler im Allgäu, 1987. Thauros Verlag

Die jüdischen Wurzeln des Matthäus-Evangeliums.
Erster Band. Weiler im Allgäu, 1991

Vor Babel. Die Welt der Ursprache. Weiler im Allgäu,
1995. Thauros Verlag

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Eugen Baer ist Philosophieprofessor mit dem Spezialgebiet Semiotik an den Hobart and William Smith Colleges in Geneva, New York

(© Eugen Baer)



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