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Thema

Hier werden wichtige Themen von Autoren beleuchtet, die mit dem Werk von Friedrich Weinreb vertraut sind.

Den Worten Seele geben



Im verborgenen Grund jedes Wortes finden wir die Seele und somit den Abgrund der menschlichen Freiheit. Abraham in uns hört – mit seinen zwei Söhnen - zwei Stimmen als Wort Gottes. Die eine Stimme ist eine Versuchung zur Gewalt. Sie fordert uns auf, das Kind in uns zu töten. Die andere Stimme ist eine Stimme der Liebe. Sie zeigt uns, daß Gott ein Gott der Gewaltlosigkeit ist. Der vorliegenden Text wurde als Vortrag am 31. Deutschen Evangelischen Kirchentag, im Juni 2007, gehalten. Von Eugen Baer (07.07.07).



Leib und Seele der Worte 
Diese Veranstaltung steht unter dem Titel «Den Worten Seele geben». Ja, da fragt man sich sofort: Wer gibt den Worten Seele? Nach jüdischer Überliefung sind Worte Rufe aus dem Nichts. Sie kommen vom Jenseits des Seins her und erscheinen in dieser Welt mit einem Leib und einer Seele. Der Leib sind die Konsonanten, die Seele sind die Vokale. Vokale werden ursprünglich nicht geschrieben, sie sind unsichtbar. Die Konsonanten erscheinen in dieser Welt wie der Leib einer Harfe, deren Saiten man berührt, um ihnen eine unsichtbare Melodie zu entlocken. So heißt es, daß der König David, der von Gott Geliebte, seine Harfe ins offene Fenster stellte, wenn er sich zum Schlaf niederlegte. Und während er schlief, kam vom Meer her der Wind, der ruach, und berührte die Saiten, worauf die unsäglich schönen Psalmenlieder entstanden, die David dann beim Erwachen niederschrieb. 


Das Jenseits der Worte
So denn: Wer gibt den Worten Seele? Nach jüdischer Überlieferung kommen die Worte vom Jenseits des Seins her in diese zeiträumliche Welt hinein, wie vom Himmel auf die Erde. Sie sind der Mutterschoß der Schöpfung. In ihnen können wir - wenn wir es hören - an unserer eigenen Geburt teilnehmen und die Tiefe des Psalmwortes erfahren: «Heute habe ich dich gezeugt» (Ps 2,7).

Um in diese Intimsphäre der Worte zugelassen zu werden, heißt es, muß man sich den Worten liebend zuneigen, sich ihnen öffnen, mit ganzer Seele, und sich ihnen hingeben. Dann berühren sich Seele mit Seele, und wir werden von den Worten hinübergetragen ins Jenseits.

Das Jenseits der Worte: Was ist es? Es ist eben ihre Seele. Worte sind wie Zugvögel; sie sehnen sich heim in ihr Ursprungsland. Sie kommen von drüben. Wenn wir uns ihnen anvertrauen, werden auch wir heimgeführt, wie im Traum.


Weinreb und die Bibel als Traum
Friedrich Weinreb (1910-1988), der bekannte jüdische Autor chassidischer Herkunft, der im vergangenen Jahrhundert die Bibel einem weiten Publikum näher gebracht hat und dessen vielfältiges Werk von der Weinreb Stiftung in Zürich weiter verbreitet wird, hat oft gesagt, daß der beste Zugang zur Bibel darin besteht, sie als Traumgeschehen zu erleben. Unter «Bibel» verstand er sowohl den jüdischen Tanach wie auch das Neue Testament. Er verglich beide mit den zwei Herzkammern des Menschen. So schrieb er im Jahre 1978:

 

«Die Bibel wird in der jüdischen wie in der christlichen
Religion gesehen als «Worte Gottes» . Sie heißt «inspiriert vom
heiligen Geist» . Das bedeutet für uns, in der heutigen Welt und
in der heutigen Umgangsprache, daß sie aus einer anderen
Wirklichkeit stammt. Vielleicht also, daß sie uns kommt, wie
Träume uns kommen. Wir können Träume nicht mit und durch
unser Bewußtsein bewirken oder irgendwie lenken. Sie kommen
uns, und wir können sie nur feststellen.» (Wege ins Wort, S. 186).


Im Anfang ist das Wort als Traum. Da, wo es in dir träumt, ist der Ort Gottes, auf hebräisch makom. Makom ist einer der vielen Namen Gottes. Es heißt in der Bibel, daß Gott da ist, wo du gerade bist. Das Wort «Gott» nennt also den Ort in uns, an dem es träumt. Und es träumt dort von Gott und einem besseren Leben. Es träumt von Dingen, die keinen Ort in der Welt haben, es träumt von Utopien und Unsterblichkeit. Es träumt von ewigem Leben, von Liebe, von ewigem Frieden und Glück. Das Wort träumt von Gott. Es ist ja Gott. So schrieb Emmanuel Levinas in seinem Buch Die Spur des Anderen

«Vor jedem Seienden und jedem Denken, in dem sich das Sein
spiegelt und bricht, sagt das erste Wort nichts als das Sagen
selbst . . .Gewiß ist das erste Sagen nur ein Wort. Aber es ist
Gott.» (Die Spur des Anderen, S. 293-294)



Das Wort ist Gott. Es macht uns Gott gleich. 

Deshalb spricht die Bibel in Gleichnissen. Sie machen uns Gott gleich. Gott kommt uns im Gleichnis entgegen. Das Gleichnis ist das Land, wo wir Gott von Angesicht zu Angesicht sehen

Das Wort «Vater» (abba)
Dieses Gott-Gleichen geschieht, wie gesagt, im Wort. Aber wie denn? Eben, indem wir es in uns träumen lassen. Nach jüdischer Überlieferung wird der Urtraum des Wortes mit den ersten zwei Buchstaben des hebräischen Alphabets geschenkt, den Buchstaben Aleph und Beth, die zusammen Ab ergeben, das hebräische Wort für «Vater», den Ur-Alten. Die affektive Form davon ist Abba. Abba ist das Wort, das der Heilige Geist in uns ruft (Gal 4,6). Das Aleph und das Beth, die unsichtbare Eins und die sichtbare Zwei, artikulieren im Hebräischen das Wort «Vater», Ur-Grund der Schöpfung. Warum nicht nur die Eins, die Aleph? Warum nicht bloß die reine Einheit? Wohl darum, weil die reine Einheit, wie schon der Neuplatoniker Plotin (205-270) meinte, unvollkommen ist, einseitig. « Bonum est diffusivum sui,» schrieb Thomas von Aquin, «das Gute ist ein Verströmen von sich selber.» Nach Weinreb (Traumleben IV, S. 167) bedeutet der Buchstabe Aleph die ursprüngliche Einheit des anochi, des Ichs. Aleph ist still, hat keinen Laut, ist nur ein Hauchen, ein tiefes Schweigen, eine Einsamkeit. Aus diesem ewigen Schweigen heraus wird das Haus Gottes gebildet, die Beth. Die Eins will lieben, und sie kann dies nur in der Zwei. Das aber besagt Bruch, Auseinanderfallen, Verlassenheit, Exil, Tod - aber auch Einswerden, Vereinigung, Glückseligkeit. Deshalb Abba, vom Aleph in das Beth, von der Eins in die Zwei - aber dann zugleich auch wieder von der Zwei zurück in die Eins, vom Beth zurück ins Aleph, in die Auferstehnung, ins Einswerden. Abba. Der Rückweg aus dem Exil zum Vater ist schon im Namen des Vaters enthalten: Ab-ba: aus sich heraus in die Zweitheit und wieder zurück ins Einswerden, ein ungeheurer innerseelischer und zugleich kosmischer Vorgang, der sich im Ur-Wort Abba verdichtet. Deshalb heißt es in der jüdischen Überlieferung, daß das Aleph und das Beth schon das ganze Alphabet enthalten, also alles, was überhaupt sagbar ist.

Friedrich Weinreb schreibt dazu:

«Gott opfert seine Einheit, indem er sich spaltet, sich trennt,
könnte man sagen, in ein Diesseits und ein Jenseits. Und damit
fängt der Weg der Einswerdung an. Aus tiefstem Elend, aus
größter Verlassenheit führt der Weg zur Einswerdung. Ein Weg
des Kennenlernens, der Gespräche, der Mißverständnisse auch,
ein Auf und Ab, ein Schenkenkönnen und ein Beschenktwerden.
Und das ist - merkwürdig genug - die Grundlage des Leids.
Denn man läßt seine Eins, seine Ruhe, seine Totalität eigentlich
zerbrechen, das ist das Opfer.» (Hiob, S. 293-294)


Abraham, «Vater der Vielen»
Das Opfer ist also im Namen Ab, «Vater», schon enthalten. Ab ist auch die erste Silbe des Namens Abraham, der in der Angleichung ans Arabische «Vater der Vielen» bedeutet. Abraham hat zwei Söhne, Ismael und Isaak. Die jüdische Tradition berichtet, daß für Abraham sowohl Ismael wie Isaak, jeder auf seine Art, «sein einziger» ist, der geliebte, unvergleichliche, unersetzliche, ewige.

Der ursprüngliche und bleibende Ruf, der an den Abraham-in-uns ergeht, fordert uns auf, alles zu verlassen und uns in ein unbekanntes Land zu begeben. Das ist die Seele des Wortes. Dieses Alles-verlassen wird ins unendlich Unsagbare gesteigert mit dem Opfer der zwei Söhne. Wir müssen alles weggeben, uns ganz wegschenken, unser Liebstes, unser Einziges, unser Selbst, unser Aleph, unser anochi, unser Ich, opfern. Dort, wo alle unsere Eigenleistung zunichte wird, dort rettet uns Gott. Dort begegnen wir der Seele des Wortes. 

Weinreb betont oft, daß im Hebräischen «Fleisch» (bassar) auch «Botschaft (bessura) heißt. In Abraham wird das Wort Fleisch, wird zur Botschaft. Die Botschaft lautet: Du mußt dich selbst verlassen, das was du am liebsten hast, deinen Einzigen, dein Kleinod, dein Selbst, gib es hin. Umsonst. Ohne warum, ohne wozu, aus Liebe.

Das Wort als Allegorie
Mindestens seit Philo von Alexandrien (ca. 20 BCE - 50 CE) weiß die rabbinische Literatur, daß das Wort der Bibel immer etwas anderes sagt, auf Griechisch allo agorei, sie teilt etwas anderes mit, sie ist Allegorie. Was ist dieses Andere der biblischen Erzählungen? Das Andere ist die Seele des Wortes, das Jenseits der Sprache, das Jenseits des Seins, das uns im Innern übersteigt. Rilke sagt, daß die Sprache uns von außen ins Innere hinüberträgt, auf Griechisch metaphorei. Die Sprache ist Metapher; sie trägt uns vom Physischen, von der sarx, zum Geistigen, zum pneuma. Wenn wir uns dem biblischen Bild als Metapher öffnen, dann kann es geschehen, daß im kairos, im günstigen Augenblick, uns die Augen geöffnet werden. Blinde sehen, Taube hören, Gelähmte stehen auf. Es sind die Augen und Glieder des Leibes, nicht die des Körpers. Wir sehen plötzlich, daß die zwei Söhne, Ismael und Isaak, auf verschiedene Weise Abrahams innere Reise in die Seele des Wortes, ins Jenseits des Seins, versinnbildlichen.

Das Wort als Ort der Freiheit
Im verborgenen Grund jedes Wortes finden wir die Seele und somit den Abgrund der menschlichen Freiheit. Der Abraham in uns hört zwei Stimmen als Wort Gottes. Die eine Stimme ist eine Versuchung zur Gewalt. Sie fordert uns auf, das Kind in uns zu töten. Die andere Stimme ist eine Stimme der Liebe. Sie zeigt uns, daß Gott ein Gott der Gewaltlosigkeit ist. Wir müssen der ersten Stimme widerstehen und der zweiten Stimme Gehör schenken, denn die erste Stimme, die der Gewalt, ist der Tod der Seele. Nur die Gewaltlosigkeit läßt die Seele der Worte erblühen. Von der Eigenleistung befreit, dürfen wir uns hingeben, so daß der Andere lebt. Emmanuel Levinas hat dies in seinem Buch Jenseits des Seins so beschrieben:

«Ist nicht der Mensch das Lebewesen, das zum längsten Atem
fähig ist - in der Inspiration, die nicht ins Stocken kommt, und im
Aushauchen, von dem es kein Zurück mehr gibt? Sich
transzendieren, aus dem Eigenen weggehen bis dahin, aus sich
selbst wegzugehen, heißt zum Stellvertreter des Anderen
werden:
In meinem Befinden als ich selbst nicht mich wohlbefinden,
sondern aufgrund meiner Einzigkeit als einzigartiges Wesen für
den Anderen zu sühnen. Die Offenheit des Raumes als Offenheit
des Sich - ohne Welt, ortlos, die Utopie, das
Nichteingemauertsein, die Inspiration bis zum Ende, bis zum
Aushauchen - genau das ist die Nähe des Anderen, die nur
möglich ist als Verantwortung für den Anderen, welche wiederum
nur möglich ist als Stellvertretung für ihn.» (Jenseits des Seins,
S. 388)



So steht denn das Wort «Vater» (abba) im Namen Abraham nicht bloß für die schreckliche Versuchung der Gewalt, sondern auch für den Ort der Umkehr. Abraham sieht plötzlich die Seele des Wortes; er sieht, daß die Gewalt im Namen Gottes ausweglos ist. Statt dessen wählt er den Gott der Liebe, den Weg der Hingabe, gewaltlos und umsonst.

Das Wort als Hingabe zum Anderen
Ismael und Isaak stehen somit für etwas Jenseitiges, das sich hier in Zeit und Raum als Opfer Abrahams zeigt. In diesem Opfer erkennen wir zugleich das Schicksal Gottes und unser eigenes. Im heiligen Wort werden sich Gott und Mensch gleich in der Botschaft, die beide in einem betrifft. Das Wort wird Fleisch, wird zur Botschaft. Die Botschaft lautet: Ihr müßt für den Anderen zu nichts werden. Dies gilt sowohl für Gott wie für den Menschen. Hier waltet die Kenose, die Entleerung, das Leerwerden von Selbst, von Versprochenem, Erhofftem, Vorgestelltem, das Leerwerden von Sinn, also die Urverlassenheit: hier wird im Wort gezeigt: Das bist du. Das bin ich. Das ist Gott, der leidet und zu nichts wird für den Anderen. 

Für Friedrich Weinreb galt für die Bibel was Jesus über das Gottesreich sagt. Es ist in der glücklichen Übersetzung von Martin Luther «in-wendig», in unserem Inneren. Deshalb müssen die biblischen Geschichten in uns nach innen gewandt, verinnerlicht, werden. Im Hebräischen ist das Wort für die Arche von Noah tewa, und tewabedeutet auch «Wort». Das Wort rettet uns aus der Sintflut der Zeit, in der wir alle versinken. Aber das Wort ist immer doppelt, vielschichtig und vielfarbig wie Josefs bunter Rock und wie der Regenbogen, der über der Arche steht. Das eine Wort, das alles sagt, das weiße unsichtbare Licht, ist nur vom Spektrum her erfahrbar, bricht sich im Spektrum der Schöpfung in die Vielfarbigkeit der Träume. Die Dunkelheit der Nacht wird durch unzählige Sternen erhellt. 

Es heißt, daß Gott den Abram nachts unter den unendlichen Sternenhimmel hinausführt. «So zahllos wie die Sterne werde ich deine Nachkommen machen,» sagt er. Jeder Stern ist verschieden. Aus dem Vater springen viele Ströme. Abraham ist der erste Jude, der erste Christ, und der erste Muslim. Alle Sterne haben ihren Platz im dunklen Himmel. Das lateinische Wort für das Begehren, desiderium (vom Lateinischen sidera, Sterne) birgt in sich das Geheimnis des Wortes in der unendlichen Vielfalt der Sterne. Von dieser unendlichen Fernnähe spricht wohl auch das unübersetzbare deutsche Wort «Sehnsucht». Wer Nähe will, muß Ferne lieben. Wer das Eine will, muß Vielfalt begehren. Wer einswerden will, muß Entzweiung erdulden. Wer sein will, muß durch das Nichts gehen:

 

«Und so ist der Mensch auch dann erst im Bild und Gleichnis
Gottes, « schreibt Friedrich Weinreb, «wenn er glaubt und liebt
und hofft, obwohl die Chance gleich Null ist. Im Augenblick des
Sterbens glaube er an das ewige Leben. Dieses Glaubenkönnen
im Fließen hier, wo man nichts sieht, wo Gott sich entzieht, macht
den Menschen tatsächlich zum Bild und Gleichnis Gottes.»
(Hiob, S. 341)


Literaturhinweise

Levinas, Emmanuel
        Die Spur des Anderen. München 1999. Verlag Karl Alber

        Jenseits des Seins. München 1998. Verlag Karl Alber

Weinreb, Friedrich
        Wege ins Wort. Von der Verborgenheit der Schrift. 
                Weiler im Allgäu 1992. Thauros Verlag

        Die Freuden Hiobs. Eine Deutung des Buches Hiob nach 
                jüdischer Überlieferung. 
Zürich 2006. 
                Verlag der Friedrich Weinreb Stiftung

 



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