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Hier werden wichtige Themen von Autoren beleuchtet, die mit dem Werk von Friedrich Weinreb vertraut sind.

Der Gerechte als Baum des Lebens



Vom «Baum des (ewigen) Lebens» spricht die Bibel gleich zu Beginn in der Erzählung vom Paradiesgarten und seinem Verlust. Gleichzeitig mit dem Lebensbaum steht ein zweiter Baum in der Mitte des Gartens: der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Was diese beiden Bäume bedeuten, kann die heutige historisch-kritische Exegese nicht zu sagen. Hingegen vermag uns die Deutung von Friedrich Weinreb einiges zu erzählen: In der Paradiesgeschichte mit den beiden Bäumen offenbart sich die Grundstruktur des Menschseins und der Menschwerdung. Von Klaus W. Hälbig 



Der Schweizer Alttestamentler Andreas Schüle erklärt in seinem Genesis-Kommentar, die Interpretation der beiden Bäume im Paradies sei «ein letztlich nicht lösbares Rätsel» (Die Urgeschichte, Zürich 2009, 62). Ganz anders Friedrich Weinreb: Er erschließt von den alten Quellen des Judentums her die Erzählung von den beiden Bäumen als Schlüsselerzählung für das Verständnis der Bibel überhaupt (Schöpfung im Wort, Zürich ³2012, 331-401: Die Erzählung von den zwei Bäumen). Die beiden Bäume stehen nämlich für die Prinzipien Einheit und Zweiheit, Geist und Materie (Fleisch), Leben und Tod, Himmel und Erde, auch das «Männliche» und das «Weibliche» in den Symbolen von Sonne (Tag) und Mond (Nacht) oder den Symbolzahlen 1 (Einheit, Gott) und 4 (Vielheit, Welt). Nicht zufällig besteht auch die Thora aus fünf Büchern im Verhältnis 1  (Genesis) zu 4 (Exodus bis Deuteronomium).

 

Die Liebe zum (Tod-)Feind
«Der Gerechte muss viel leiden, doch allem wird der Herr ihn entreißen» (Ps 34,20). Die zentrale Frage der Bibel ist die nach der Gerechtigkeit, der rechten Heilsordnung, dem Heil- und Heiligsein vor Gott: «Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig» (Lev 19,2). «Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlische Vater ist», der über Gerechte und Ungerechte regnen und aufgehen lässt seine Sonne der Liebe (Mt 5,45-48; vgl. V.20). Worin besteht der Gegensatz zwischen gerecht und ungerecht, heilig und sündig? Jesu Antwort zielt auf die Feindesliebe, die nicht auf die Wechselseitigkeit der Liebe aus ist: «Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen» (Mt 5,44; vgl. 5,10).

 

Die zu lieben, von denen man selbst geliebt wird, ist hingegen nichts besonderes (VV. 46f); den Feind und Verfolger zu lieben, erscheint dagegen als übermenschlich. Die Ur-Feindschaft setzt Gott selbst zwischen der verführenden Schlange (Triebnatur) und der «Frau» als der Leibseite des Menschen (Gen 2,15) oder zwischen Tod und Leben. Diesen größtmöglichen Gegensatz in der Gegensatz-Einheit zu übersteigen, ist kaum möglich. Kardinal Nikolaus von Kues spricht von der «Mauer des Paradieses», die diese irdische Welt der antagonistischen Zweiheit von der göttlichen Welt der unendlichen Einheit oder des Himmels trennt. Und doch geht es darum, Kinder des einen himmlischen Vaters aller Menschen zu sein (Mt 5,45; 6,9).

 

In der irdisch-körperlichen, biologischen Welt des Endlichen herrscht notwendig das Gesetz der Verdrängung, des Kampfes, des Fressens und Gefressen-werdens. Wäre diese sichtbare Welt die einzige oder die allein wirkliche, so wäre das Gebot zur Feindesliebe widersinnig und abwegig. Aber der geistleibliche Mensch ist Bürger zweier Welten, der himmlische und der irdischen, und deshalb fähig, im Feind auch den Bruder zu sehen oder statt des Splitters im Auge des anderen den Balken im eigenen Auge (Mt 7,1-5). Denn bevor der Mensch urteilt und andere richtet, muss er bedenken, dass sein «Auge krank ist», das heißt nicht die Einheit beider Welten sieht, und folglich auch sein ganzer Körper (Mt 6,22f), dass es also an der am rechten Bewusstsein, am Licht des Glaubens, an der göttlichen Erleuchtung fehlt.

 

Augustinus kann von daher im Hinblick auf die Heilung von zwei Blinden(Mt 20,30-34) unmittelbar vor dem Einzug Jesu in Jerusalem und der Tempelreinigung in einer Predigt sagen: «Die ganze Arbeit in diesem Leben von uns, Brüder, besteht also darin, das Auge des Herzens zu heilen, damit es Gott sieht [vgl. Mt 5,8]. Dazu werden die hochheiligen Geheimnisse zelebriert, dazu wird das Wort Gottes gepredigt; deshalb werden die sittlichen Ermahnungen der Kirche gegeben (…). Gott hat dich, Mensch, nach seinem Bild gemacht. Sollte er dir nicht etwas gegeben haben, damit du die Sonne siehst, die er gemacht hat? Und sollte er dir nicht etwas geschenkt haben, damit du den siehst, der dich nach seinem Bild geschaffen hat? Er gab dir auch dieses. (…) Nachdem er [Adam] gesündigt hatte, war sein Auge verletzt, und er begann, das göttliche Licht zu fürchten … Er floh die Wahrheit und suchte die Schatten.»

 

Bevor der eine Hohepriester am großen Versöhnungstag (Jom Kippur) das Allerheiligste oder Innerste des Tempel-Heiligtums als Gott entsprechender «Adam» betrat, um an diesem idealen Ort der Einheit (analog zum Paradies) in der heiligen Opfergesinnung seines Herzens unter Anrufung des allerheiligsten Gottesnamens die Bundeslade mit dem Opferblut von Stieren zu besprengen, wobei er aufgrund der Lebensgefahr, in die er sich damit freiwillig begab, selbst sein Leben für das Volk und für alle Menschen einsetzte, musste er zur Vorbereitung auf diesen gefährlichen Opfergang das Buch Hiob lesen. Der Name Hiob (hebr. ijow) wird im Hebräischen mit denselben Buchstaben geschrieben wie das Wort für Feind (ojew). Friedrich Weinreb sagt dazu in seinem Buch Die Freuden des Hiob (2006, 53): «Immer, heißt es, hat der Mensch den Feind bei sich, den Feind in jeder Hinsicht. Wie der Tod sein Feind ist und auch sein Kamerad auf dem Weg, denn er begleitet ihn doch sein Leben lang.»

 

Nach Ludger Schwienhorst-Schönberger klingt beim Hebräischen ojebi (mein Feind) das Wort «Ijob» an; und: «Gott führt Ijob in eine Art Todesmeditation hinein» (Ein Weg durch das Leid. Das Buch Ijob, Freiburg u. a. 2007, 256; 153). Wenn Hiob am Ende seines Wegs durch das Leid die erlösende Gottesschau zuteil wird, so entspricht das dem, «was Jesus denen verheißen hat, die «reinen Herzens sind» (Mt 5,8)»: Hiob «ist den Weg des Glaubens zu Ende gegangen und ein Schauender geworden» (ebd. 9; 265). Diese Heilung der Augen des Herzens ist das eigentliche Thema des Hiob-Buches, das den Weg von der äußeren Gesetzes-Gerechtigkeit zur inneren Seins-Gerechtigkeit beschreibt. Hiob, der äußerlich gesehen überaus fruchtbar und produktiv ist, muss doch erst noch innerlich fruchtbar werden, und zwar durch die innere Beschneidung des Herzens.

 

Verwurzelt im Willen des Vaters
Hiobs Haut, der Ort seines Erscheinens in der Welt, ist übersät «mit bösartigen Geschwüren von der Fußsohle bis zum Scheitel» (Ijob 2,7); sie «schrumpft und eitert» (7,5), ist «zerfetzt» und «schwarz» (19,26; 30,30). Satan verlangt von Gott, Hiob durch und durch zu prüfen: «Haut um Haut!» (Ijob 2,4), was sich auch lesen lässt als «Haut bis auf den Grund der Haut». In diesem Zu-Grunde-gehen erfährt Hiob, was es heißt, als unbeschnittener Nicht-Jude im Lande Utz (Ijob 1,1) zu wohnen (wie Ez = «Baum» mit Waw = «Haken» in der Mitte) und so der «Mensch im Baum» zu sein, das heißt der Gerechte, der wie ein Baum ist und zu jeder Zeit gute Frucht trägt (Ps 1,3) im Sinn des Geistes (vgl. Gal 5,22f). Diese Fruchtbarkeit folgt aus der beständigen Meditation der Thora  (V.2), die selbst im geistigen Verständnis der wahre Baum des Lebens ist (Spr 3,18) und so die Einheit des Lebens jenseits der Zweiheit und Spaltung im Essen vom Erkenntnisbaum von Gut und Böse.

 

Hildegard von Bingen bezieht den Lebensbaum im Paradies mit Bezug auf Psalm 1,3 auf Jesus, den wahrhaft Gerechten: «Der Sohn Gottes, der in allem den Willen Seines Vaters gefolgt ist, war der Baum des Heiles gewesen, empfangen vom Heiligen Geist. Aus Ihm strömen lebendige Wasser und schenken die Frucht der Heiligkeit in Fülle… Wie der Saft des Wassers in der grünenden Lebensfrische des Baumes lebt, so west Gottes Sohn immerdar im Vater bis zur festgesetzten Zeit Seiner Menschwerdung, da Er für alle geistlichen Menschen zur Speise des Lebens wurde» (Welt und Mensch. Das Buch «De operatione Dei», 207).

 

Der Gerechte ist demnach nicht nur für sich selbst gerecht, sondern er macht all jene gerecht und heilig, die mit ihm substantiell in Berührung kommen. Denn seine «Speise» ist es, in allem den Willen des Vaters zu suchen und zu tun (Joh 4,34) und so selbst Lebensbrot für andere zu sein. Das setzt voraus, dass der Mensch durch die «Beschneidung» seines Herzens den Egoismus aus der Angst vor dem Tod überwunden hat. So kann Jesus in der Hingabe seines Lebens und der eucharistischen Gabe des «Brotes vom Himmel» als Frucht des Kreuzes als «Baum des Lebens» die «befreien, die durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren» (Hebr. 2,15).

 

Hiob lernt in seiner Todes-Meditation in Auseinandersetzung mit seinen vier «Freunden», sich ganz im heiligen Willen Gottes zu verwurzeln und so gleichsam selbst ein «immergrüner Baum» des Lebens zu werden, dessen innere oder geistige Fruchtbarkeit sich am Ende in der Verdoppelung aller Güter erweist: «Der Herr wendete das Geschick Ijobs, als er für seinen Nächsten Fürbitte einlegte» (Ijob 42,10.12), das heißt im Einswerden der beiden Seiten von Erde und Himmel, Leib und Geist.

 

Mehr noch als Hiob ist aber der Gekreuzigte der «Mensch im Baum», führt er im Kreuz als geistige «Beschneidung des Menschheitsbaumes» (Annick de Souzenelle) wahrhaft zur «Fülle aller Fruchtbarkeit» des Geistes (Hildegard von Bingen). Was das bedeutet, sagt Papst Benedikt XVI. mit Bezug auf das apokryphe Jesus-Wort: «Wer aus meinem Mund [das Wort Gottes] trinkt, der wird werden wie ich»: «Der Gläubige wird eins mit Christus und nimmt an seiner Fruchtbarkeit teil. Der glaubende und mit Christus mitliebende Mensch wird zu einem Brunnen, der Leben schenkt. Auch das kann man in der Geschichte wunderbar sehen: wie die Heiligen Oasen sind, um die herum Leben sprosst, um die herum ein wenig vom verlorenen Paradies wiederkehrt» (Jesus von Nazareth, Bd. I, Freiburg 2007, 291).

 

Die Heiligen, die eins sind mit Christus, erscheinen so mit Ihm als Mittler des Stroms der heiligmachenden Gnade, der beständig aus dem Herzen des Erlösers am Kreuzbaum des Lebens strömt, das in liebendem Erbarmen für alle durchbohrt und geöffnet ist (Joh 19,34; 7,37f). Hat sich doch der Sohn Gottes für alle in den Tod gegeben und alle mit Gott versöhnt, «als wir noch (Gottes) Feinde waren» (Röm 5,10). Gerade in seiner Hingabe in den Kreuzestod ist Jesus der vollkommene Gerechte und Heilige, der nur so «reiche Frucht» der Liebe bringt, die bleibt (vgl. 15,1-17). «Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht» (Joh 12,24; vgl. Ijob 1,21). Dabei gehören Auferstehung, Opfer, Bund und Beschneidung zusammen.

 

Der Bund der Beschneidung
Der Bund, den Gott mit seiner Schöpfung «im Anfang» (hebr. bereschith) schließt, besteht in der (Herzens-)Beschneidung des Menschen. Friedrich Weinreb erklärt in seinem Buch Das Opfer in der Bibel. Näherkommen zu Gott (Zürich 2010, 615). Die Beschneidung ist das Wegnehmen der Umhüllung, «damit der Kern sichtbar wird; sie [die Umhüllung] wird aber nicht vernichtet, sondern nur zurückgeschoben. Das ist also die «brith», die Brücke, der Bund.» Durch die Beschneidung «wird der Körper zur Demut geführt und einer Ordnung unterworfen, die aus einer anderen Welt hervorgeht als jene, die den Körper regiert. (…) Der Körper kehrt erst durch die «mila» [Beschneidung] zurück. Und darum ist das «korban» [Opfer] im Grunde nichts anderes als die «mila». Es besteht darin, dass der Körper zu Gott gebracht wird, wodurch er zum Bund wird, zur Verbindung, zur Brücke zwischen dieser und der anderen Welt. Durch das «korban» kommt der Mensch zu Gott» (ebd. 727). 

 

Das Wort bereschith lässt sich durch Buchstabenumstellung, die im Hebräischen möglich ist, auch lesen als brith-esch: Bund des Feuers. Das Bundeszeichen der Taufe mit dem Wasser geschieht zugleich mit dem Heiligen Geist als Feuer (Mt 3,11). «Be-resch-ith» hat auch zu tun mit der Verbindung von Haupt (rosch) und Haus (beth) bzw. Körper. «Der Begriff «rosch» will also in erster Linie an die Verbindung zur anderen Welt erinnern» (ebd. 554; vgl. 370).

 

Im Neuen Bund ist das Gesetz dem Menschen nicht mehr äußerlich, sondern zutiefst in sein Herz innerlich eingeschrieben auf die «Tafeln aus Fleisch» (2 Kor 3,3.6; Hebr 10,16; Jer 31,33). So aber wird der Mensch des Neuen Bundes selbst zur Thora. Der jüdische Religionsphilosoph Abraham Joshua Heschel sagt im Hinblick auf die messianische Zeit: «Für das biblische Denken war nichts auf der Welt so heilig wie die Tafeln des Gesetzes. Aber es werden Tage kommen, wo Menschen die Gesetzestafeln sein werden, wo der Mensch Tora wird» (in: F. A. Rothschild [Hg.], Christentum aus jüdischer Sicht, Berlin 1998, 320).

 

Dieses Thora-werden zeigt sich in der Frucht der Einswerdung der Zweiheit von Abraham und Sarah in Jizchak (Isaak), der das vollkommene Jod (= 10) am Anfang seines Namens hat und daher als erster am 8. Tag beschnitten wird (Gen 21,4). Wie diese Beschneidung die erste Form des Opfers ist, so das Opfer auf dem Tempelberg Morijah (= JHWH ist mein Lehrer) die zehnte und letzte «Gehorsams-Prüfung» Abrahams. Dieser ist der Zwanzigste nach Adam und deshalb durch die 10 + 10 (= 20) oder 10 x 10 (= 100) bestimmt (Abraham ist bei Isaaks Geburt «100 Jahre» alt: Gen 21,5), das heißt durch eine Zweiheit, die noch zur Einheit gelangen muss, wie sie dann in Jizchak erreicht wird.

 

Die Eltern Isaaks, Abram und Saraj, erhalten durch den Beschneidungsbund jeweils ein He ((= 5. Buchstabe mit dem Wert 5) in ihre Namen eingefügt und werden so erst zu Abraham und Sarah (Gen 17,5.15). So verkörpern sie das obere «männliche» und das untere «weibliche» He oder die beiden Seiten der Schöpfung: Himmel und Erde, Geist und Fleisch, die im Menschen «hochzeitlich» eins (= 10 = 5 + 5) werden sollen –  in Entsprechung zum heiligen Gottesnamen J-H-W-H, in Zahlen: 10-5-6-5, zu lesen als 10 = 5 «und» 5. Beide Tafeln des Gesetzes mit den Zehn Geboten (5 + 5) aber stehen für die zwei Hauptgebote der Gottes- und Nächstenliebe, die im Menschen eins sein sollen (Mt 22,37-40; Röm 13,9f).

 

Das Opfer Abrahams: Durchbruch zur Einheit
Isaak ist der «geliebte Sohn» (Gen 22,2) oder die dem «Weg» (im Urzeichen 7) entwachsene Frucht des Geistes. Friedrich Weinreb bemerkt in Wunder der Zeichen – Wunder der Sprache. Vom Sinn und Geheimnis der Buchstaben (Bern 1999, 50f): Als Sohn ist Isaak wesenhaft «der Zweite» nach dem Vater: «Sohn ist «ben», 2-50. Der Sohn (ben) hat zum Ausgangspunkt das Beth», genauer: das Beth des Vaters. «In ihm ist der Weg durch diese Welt angelegt. Er führt durch die Welt des Siebten Tages [= Sieben-Tage-Schöpfung]. Der Sohn ist es, der den Weg zu Ende geht. Der Weg durch die Welt ist das Dritte, das Gimel» (= 3. Buchstabe in der Bedeutung «Kamel»). Während Abraham der «Vater der Vielheit» ist, bricht in Isaak die Gnade der Einheit durch: «Jizchak ist nicht mehr Wiederholung, sondern Ruhe und Rückkehr. Der Sinn der Schöpfung nimmt Gestalt an. Der Jüngste ist dem Uranfang gleich; auch Gott sagt von Sich: Ich bin der Erste und der Letzte.»

 

Im Opfer Isaaks als Annäherung an den Ursprung kommt der 8. Tag der Auferstehung in den Blick (vgl. Hebr 11,17-19). Abraham erblickt «von weitem» den «Ort» des Opfers «am dritten Tag» (Gen 22,4). Der Sohn ist der Weg als das Dritte, aber: «Der Weg öffnet sich erst, wenn man aus der Gefangenschaft in der Zwei befreit ist», was durch eigene Leistung «niemals möglich ist. Es braucht den Gast von außerhalb – die Gegebenheit aus einer anderen Realität – als Voraussetzung für den Auszug aus Ägypten. Mit dieser Einsicht beginnt der Weg» (ebd. 51).

 

Der «Gast von außerhalb» ist in der Abrahamgeschichte Gott selbst in Gestalt der «drei» Engel, die die unerwartete Geburt des Isaak ankündigen und in der christlichen Tradition zum Bild des drei-einen Gottes werden (vgl. Gen 18,1-33). Dort verhandelt Abraham mit Gott, um das drohende Strafgericht über «Sodom und Gomorra» (über den 6. Tag) noch abzuwenden. «50 Gerechte in der Stadt» würden dafür reichen, ja selbst «zehn» (Gen 18,23-32). Die Zahlen verweisen auf das Jenseits des Weges in dieser Welt, den notwendigen Überstieg über den 6. Tag über den 7. Tag zum 8. Tag der Auferstehung oder vom determinierenden Naturgesetzt  über das moralische Gesetz der Freiheit zum Gesetz der Gnade der Gotteskindschaft und Liebe.

 

«Der Sohn führt den Weg durch die 7 x 7 dieser Wirklichkeit, in der man erschöpfend die Zweiheit erfährt. Er geleitet aber auch darüber hinaus. Er hat die 50 in seinem Namen [ben = 2-50], er bricht durch in die Welt des Achten Tages. Die Bestimmung des Sohnes ist, die Gegensätze zu vereinen: Diesseits und Jenseits. Das Fünfzigste – nach der 7 x 7 – ist die Ruhe des Anfangs, die Welt, aus der man kam, als der Weg begann. Der Weg drückt sich aus in den Begriffen 7 und 40, das Land ist 8 und 50. Auf dem Weg gibt es das Manna («man», 40-50). (…) Erst im Land ist das Ziel erreicht. Dort ist der Gan [= Garten] Eden. (…) Im wiedergewonnenen Paradies baut der Sohn Davids [= Salomo], des Geliebten, das Haus für den Vater», das heißt den Tempel (ebd. 52f).

 

Wie die Auferstehung Jesu am «achten Tag» (nach dem Sabbat/Samstag als 7. Tag) geschieht, so die Sendung der Geistfülle am «50, Tag» (= Pfingsten, griech. pentecoste) nach Ostern. Nur der Sohn, der vom Geist her wirklich Ein-sicht (hebr. binah) in den vorherbestimmten Sinn und die Wahrheit des Weges der «Verlobung» und Einswerdung der Schöpfung mit ihrem Schöpfer hat, führt – wie Weinreb hervorhebt – «uns den ganzen Weg von der 2 bis zur 50 treu»; dann ist der Sohn «selber der Weg und das Leben» (ebd. 53; vgl. Joh 14,6).

 

Kreuz und Thora in mystischer Deutung
Zu dieser Fülle des Lebens ist der Mensch, der sich von Gott führen lässt, zeitlebens unterwegs. Das Zeichen, das ihm dabei unfehlbar Geleit gibt, ist das Kreuz als End-Zeichen Taw (= 400), das im 1. Jahrhundert noch kreuzförmig geschrieben wurde (+ oder x). Mit ihm wird der Täufling deshalb auf der Stirn versiegelt und so mit dem Geist Gottes verbunden (vgl. 2 Kor 1,22; Ez 9,4.6; vgl. das Auflegen des Aschenkreuzes auf der Stirn). «Es ist jenes Zeichen, das beide Seiten hat: Einerseits ist es das Ende der Entwicklung, andererseits ist es der Übergang zur Einheit. Der Weg der Einswerdung ist mit dem Erreichen der 400 vollendet. (…) Die Eins, die als Frucht aus der Begegnung der Gegensätze kommt, hat nicht eine Beschaffenheit, die vom Weg aus erklärt werden kann. Die 22 Zeichen können von ihr nicht erzählen» (ebd. 18).

 

Das Zeichen, das Ursprung und Vollendung zugleich auszudrücken vermag, ist die Zahl 500 (400 + 100), die als Buchstabe des Alphabets mit den 22 Konsonanten nicht mehr existiert. Es ist die Zahl der Auferstehung zur Einheit nach dem Durchgang durch das Kreuz (400). «Diese 500 ist die Freiheit des Glaubens, des Umsonst-Tuns. Zur 500 gelangt man nur durch alle 22 Zeichen bis und mit dem Taw. Der Baum des Lebens hat als Umfang die 500» (ebd. 145f). Von daher spricht Paulus von den «500 Brüdern» als Zeugen der Auferstehung Jesu (1 Kor 15,6).

 

Im hellenistischen Judentum der Zeitenwende war die Gestalt Hiobs wegen des darin zum Ausdruck kommenden Universal-Menschlichen stark präsent, so im griechisch verfassten «Testament Hiobs», das in Form einer Ich-Erzählung für die Lehre von der «Auferstehung der Toten» eintritt. Das rabbinische Judentum hingegen kritisierte Hiob als unfrommen und «frechen Gotteslästerer» und marginalisierte ihn im Lauf der Geschichte zunehmend, auch im Gegenüber zur «Lichtgestalt Abraham» (so die Schweizer Judaistin Gabrielle Oberhänsli-Widmer). Erst nach der Schoa wird Hiob auch Deutegestalt des Schicksals des jüdischen Volkes.

 

In der aus dem Judentum stammenden, zum katholischen Glauben konvertierten, in Auschwitz hingerichteten Märtyrerin Edith Stein vereinen sich in einer künstlerischen Darstellung auf dem Petersplatz in Rom die beiden zentralen Symbole von Judentum und Christentum, Thora und Kreuz, die sie in ihren Händen trägt. Das wurde von jüdischer Seite als eine «unerträgliche Vermischung» der Symbolik kritisiert, wodurch die Gestalt der Heiligen zur «Figur christlicher Vereinnahmung des Judentums» wird, so der Rabbiner Walter Homolka: «Wie soll die Heilige «für Beides» stehen, wie der Künstler ausdrücklich betont: für Judentum und Christentum, in Torarolle und Kreuz symbolisiert, wo sie sich durch ihre Konversion zum Christentum doch bewusst vom jüdischen Glauben abgewandt hat!» (vgl. Heinz-Günther Schöttler, Jüdische und christliche Symbolik unglücklich vermischt. Die neue Edith-Stein-Statue am Petersdom, in: Freiburger Rundbrief 2/ 2007, 154-156, hier 155).

 

Bei Friedrich Weinreb lässt sich lernen, dass Thora und Kreuz jeweils zu recht als «Baum des Lebens» verstanden werden, dass zwischen dem Alten und dem Neuen Testament eine wirkliche innere Einheit besteht und dass folglich auch der Gegensatz zwischen Judentum und Christentum nicht für immer bleiben muss.

 

Literaturhinweis
Mehr zum Ganzen im Buch von Klaus W. Hälbig, Der Baum des Lebens. Kreuz und Thora in mystischer Deutung, Echter Verlag Würzburg 2011, 368 Seiten, 29 €. 



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