Weinreb Stiftung

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Jugend- und Studienzeit

Efraim Fischl Jehoschua, der in den amtlichen Registern als Friedrich Weinreb eingetragen ist, wurde am 18. November 1910 im damals österreichischen Lemberg, bis 1918 die Hauptstadt Galiziens, geboren.

Beide Elternteile enststammten chassidischen Familien mit langer Tradition; die Mutter war in Wiznitz in der Bukowina aufgewachsen, der Vater im ostgalizischen Zalesciki am Dnjestr.

Im autobiographischen Rückblick erzählt Weinreb seine früheste Kindheitserinnerung:
«Es ist schön, gemütlich, warm. Ein hohes Zimmer, blau und rot und weiß, viel weiß. Ich glaube, ich hatte gerade etwas Gescheites oder Nettes, vielleicht auch etwas Liebes gesagt. ... Mein Vater hebt mich stolz und fröhlich lachend auf und setzt mich auf seinen Schreibtisch. Meine Mutter steht hinter uns. In meinen Augen groß, schlank, weiß gekleidet. Auch sie lacht und ist glücklich. ... Ich mache gerne Menschen glücklich.»

Das wird zu einem Leitmotiv seines Lebens. Glück und Freude schenken, glücklich und voller Freude sein – in solchem menschlichem Verhalten und in solcher Gestimmtheit erkennt er die Quelle schöpferischen Lebens.

Es mag vielleicht überraschen, daß er seine Schulzeit «ein wahres Martyrium» nennt und sie zu den schlimmsten Erinnerungen seines Lebens zählt:
«Alles war auf Anpassung, spätere Verwertbarkeit im Beruf gerichtet ... Niemanden interessierte auch nur entfernt der Sinn des Lebens.»

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht die junge Familie in der Sommerfrische in den Karpaten. Auf der Flucht vor den Russen treffen sie nach einer Odyssee durch Ungarn in Wien ein, wo sie mit vielen anderen ein Flüchtlingsdasein teilen. Dort lernt der Fünfjährige seine Großeltern kennen, und mit ihnen kommen die vielen Geschichten über seine Vorfahren. Er hört von Mosche aus Kuty, der zehn Generationen vor ihm lebte und am Kol-nidre-Abend den Toten, die ins Leben drängten, zurückzukehren befahl; er hört vom «großen Maggid» Dow Bär von Mesritsch, vom Czortkower Rebbe, vom Nadworner Maggid, von Israel von Ruzin.

Im Sommer 1916 trifft die Familie Weinreb in Scheveningen ein, wo es eine ziemlich große jüdische Gemeinschaft gibt. Die Niederlande werden nun zur neuen, auch staatsbürgerlichen Heimat. Neben dem Besuch der Höheren Bürger-Schule, eine Art Realgymnasium, erhält er von verschiedenen Lehrern Hebräischunterricht. Die schlichte Frömmigkeit und Lebensweise von einem von ihnen, der zu den Lubavitscher Chassidim gehört und aus Rußland geflohen war, führt den Zwölfjährigen zu dem Entschluß einer ganz orthodoxen Lebensweise mit der Einhaltung aller Vorschriften und Gebote. Seinen Eltern ist das ziemlich peinlich, weil die Verwandten und Bekannten im dortigen Umkreis das als Rückfall in jene Welt ansehen, aus der sie sich durch Aufklärung, Humanismus, Liberalismus und Zionismus befreit haben.

Nach der Matura ist er gezwungen, ein «Brotstudium» zu absolvieren. Der vierköpfigen Familie, neben ihm gab es noch einen jüngeren Bruder, geht es materiell gar nicht gut. Der Vater hatte sich von seiner schweren Krankheit im Krieg nie wieder richtig erholt und konnte in seinem Beruf als Textilfachmann in Holland nicht Fuß fassen. So wählt nun der ältere Sohn, in den der Vater alle Hoffnungen setzt, statt Literatur und Philosophie, wie es seinen Neigungen entsprochen hätte, das Studium der Volkswirtschaft.

Im Frühjahr 1931 stirbt sein Vater, ein halbes Jahr später seine Mutter. Als er, nunmehr vollkommen mittellos, das Studium aufgeben will, erhält er überraschend eine Assistentenstelle am Niederländischen Ökonomischen Institut der Hochschule Rotterdam. Sein Professor teilt ihm das noch ganz in den Anfängen steckende Spezialgebiet der mathematischen Statistik zu. 1936 erscheint seine erste Publikation: «Statistische Bepaling van die Vraagcurve» (Statistische Bestimmung der Nachfrage-Kurve). Dieser Forschungsbeitrag zu dem noch jungen Zweig «Ökonometrie» der Wirtschaftswissenschaften bringt ihm wenig später die Ernennung zum Professor an der Hochschule Rotterdam.

Im November 1936 heiratet er Esther Gutwirth und gründet seinen Hausstand in Scheveningen.

Diese berufliche Erfolgsgeschichte aber ist nur die eine Seite seiner Persönlichkeit. Zu gleicher Zeit erlebte er in seiner anderen Seite den Durchbruch als Mystiker und im Thoralernen. Er studiert den Talmud und den Sohar, beschäftigt sich aber auch mit Schopenhauer, Kant, Hegel, Nietzsche, Leibniz, Descartes, Spinoza und Bergson.

Seine wissenschaftlichen Arbeiten führen ihn in den dreißiger Jahren an deutsche Universitäten, vor allem aber, mit längeren Aufenthalten, nach Wien. Von dort aus unternimmt er Reisen nach Budapest, Preßburg, Brünn, Belgrad und Prag; im jüdischen Osten hoffte er, «irgendeinen hervorragenden Weisen» zu entdecken, der ihn in seiner Einsamkeit und Sehnsucht verstehen würde. Im ersten Band seiner Autobiographie, «Begegnungen mit Menschen und Engeln», erzählt er, wie er infolge eines merkwürdigen Zughalts auf offener Strecke in eines jener typischen «Städtchen» («Stetl») kommt, das ganz vom chassidisch-jüdischen Leben geprägt ist. Dort verbringt er als Gast des Rebbe einige Wochen, und die Gespräche mit dem Rebben werden ihm zum entscheidenden Erlebnis für das Verständnis von Thora und Überlieferung in Bezug auf den Sinn des Alltags.

Als Wissenschaftler erfährt Weinreb eine westliche Gesellschaft, die den Herrschaftsanspruch der Wissenschaft bereitwillig anerkennt; als Nachkomme chassidischer Zaddikim ist ihm das Glück im Leben mit der Thora geschenkt. Es sind die äußersten Extreme, und er fühlt, «daß es von allerhöchster Wichtigkeit sei, diese beiden Welten jetzt zueinander zu bringen. Die Welt, wo die Quellen noch gelebt wurden, hatte keine Verbindung mit der Welt, welche ehrlich suchte, aber von diesen Quellen keine Ahnung hatte.»

Der 1864 in Wien geborene Dr. Nathan Birnbaum, anfangs ein Weggefährte Theodor Herzls, der später mit seiner «Bekehrung» zum strenggläubigen Orthodoxen Aufsehen erregte, beeinflußt Weinrebs Denken und Handeln in dieser Zeit. 1935 tritt er in näheren persönlichen Kontakt mit ihm, wird bald sein Vertrauter und Sekretär und dadurch auch in weiten Kreisen des orthodoxen Judentums bekannt. In Wien begegnet er auch Nathans jüngstem Sohn, dem Dichter, Maler und Graphiker Uriel Birnbaum (1894-1956), mit dem ihn dann eine lebenslange Freundschaft verbindet.

1937 findet in Marienbad der Kongreß der Agudath Israel, der Weltorganisation der orthodoxen Juden, statt. Weinreb hält im Plenum ein Referat über «Beruf und Leben». «Verschiedene bekannte Rebbes mit ihrem Anhang sind da. Eine Konzentration, wie man sie sonst selten sieht. Keiner wußte, daß man zum letzten Mal eine solche Elite aus vielen Ländern an einem Ort versammelt sah. Gerade diese Juden des Ostens, dieses Reservoir des Judentums, wurde ausgerottet: Von den sechs Millionen Toten waren über neunzig Prozent aus dem Osten.»

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