Weinreb Stiftung

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Kriegs- und Nachkriegszeit

Am 10. Mai 1940 beginnt der Angriff Nazideutschlands auf Holland. Nach wenigen Tagen erfolgt die Kapitulation und das Land wird besetzt. Damit beginnt die dramatischste und folgenreichste Zeit in Weinrebs Leben.

Mit der Besetzung beginnen auch die Maßnahmen gegen die Juden. Weinreb verliert seine Stelle am Institut. Eine wachsende Zahl von Verängstigten wendet sich an ihn, den Akademiker, um Rat. Weinrebs Wohnung in Scheveningen wird zur Anlaufstelle für Hilfesuchende, vor allem der ostjüdischen Gemeinschaft, wo man keinerlei Erfahrung im Umgang mit den Behörden hat.

Anfang 1942 erhalten die ersten Juden Aufrufe, sich für den Transport ins Sammellager Westerbork zu stellen. Als Weinreb um Hilfe angegangen wird, wie man sich dem entziehen könnte, entschließt er sich in seiner Bedrängnis zu einem folgenreichen bürokratischen Täuschungsmanöver: Er fingiert ein «Büro Weinreb», das im Auftrag der deutschen Wehrmacht tätig ist, und bestätigt der zuständigen Behörde, daß bestimmte Personen zur Emigration gegen Devisen vorgesehen und daher vom «Arbeitseinsatz» freizustellen seien.

Die sogenannte «Weinreb-Liste» ist geboren. Wer dort notiert ist, dem wird «bis auf weiteres» Aufschub gewährt. Die Liste wächst, verselbständigt sich sogar im Lager Westerbork, wo sich Juden, die davon hören, eintragen lassen, um den Transporten nach Polen zu entgehen.

Inzwischen hofft Weinreb auf die vom englischen Sender angekündigte Invasion der Alliierten. Er als einziger weiß, daß sein Aufschub gewährendes Phantasiegebilde jeden Augenblick als dreiste Lüge entlarvt werden kann. Und damit sich die in die Liste Eingetragenen nicht in falscher Sicherheit wiegen, rät er jedem «unterzutauchen» und sich, wenn möglich, ins neutrale Ausland abzusetzen. Er knüpft Kontakte zur Illegalität, zur Unterwelt, um falsche Papiere, Untertauchadressen, Lebensmittelkarten für die Untergetauchten zu beschaffen.

Nach der Verhaftung einer untergetauchten Jüdin fällt beim Verhör der Name Weinreb, worauf dieser sofort verhaftet wird. Nach seinen Auftraggebern befragt, erfindet Weinreb spontan einen Generalleutnant Herbert Joachim von Schumann beim Oberkommando der Wehrmacht in Berlin sowie zwei Mittelspersonen in Den Haag bei der Kommandatur. Der für Weinreb zuständige SD-Mann Koch, der natürlich bald herausfindet, daß es einen General dieses Namens in Berlin nicht gibt, ist überzeugt, daß Weinreb das Opfer raffinierter Betrüger geworden ist. Er läßt Weinreb frei und wie zuvor weiterarbeiten, um nun mit seiner Hilfe die vermeintliche «Schumann-Bande» zu fassen.

Weinreb sucht Zeit zu gewinnen, bestärkt mit Andeutungen und vagen Geschichten den SD-Mann in seiner Verschwörungstheorie. Als der SD auf Konkretes drängt, heuert er einen Kriminellen an, der gegen Honorar bereit ist, die Rolle eines Mittelsmannes der «Schumann-Clique» zu spielen und sich vom SD verhaften zu lassen. Die Inszenierung geht auch wie geplant über die Bühne, aber in den Verhören bricht er bald zusammen und gesteht alles.

Weinreb wird verhaftet, schwer mißhandelt und kommt ins Polizeigefängnis, seine Familie wird ins Lager Westerbork abtransportiert. Als Weinreb im Verhör gesteht, daß er alles nur erfunden habe, glaubt ihm Koch kein Wort, sondern ist fester denn je davon überzeugt, daß Weinreb diesen «von Schumann» nur schützen wolle.

Im Mai 1943 trifft Weinreb mehr tot als lebendig als «Sträfling» im Lager Westerbork ein, wo er vom Tod seines älteren Sohnes David erfährt. Bald aber wird er vom SD wieder nach Den Haag geholt. Da das Schumann-Rätsel unlösbar erscheint, möchte man sich jetzt mit der Hilfe Weinrebs an Geld, Wertsachen und Diamanten untergetauchter Juden bereichern. Um ihrer habhaft zu werden, soll Weinreb eine neue Liste für die Ausreise nach Portugal eröffnen. Wieder gelingt es Weinreb mit List und Täuschung den SD von seiner Mitarbeit zu überzeugen und gleichzeitig weit über tausend Personen in Westerbork für den Weitertransport nach Auschwitz sperren zu lassen.

Anfang 1944, als ihm der SD zu mißtrauen beginnt, taucht er buchstäblich im letzten Moment samt seiner Familie unter. Unter falschem Namen, aber mit «echten» Papieren, leben sie in der Nähe von Arnhem, erleben dort im September dieses Jahres die Schlacht um Arnhem, werden evakuiert und kommen bis zum Kriegsende auf einem Bauernhof unter.

Kurz nach der Befreiung durch die Alliierten gerät Weinreb in ein gefährliches Chaos. Ehemalige Untergrundkämpfer und allerlei patriotische Gruppierungen maßen sich Polizeigewalt an, jagen auf eigene Faust echte oder vermeintliche Kollaborateure, während Niederländer, die allzu eng mit den Deutschen zusammengearbeitet haben, verräterische Spuren verwischen und unliebsame Zeugen beseitigen lassen. Ein Anführer aus dem Widerstand erkennt in Weinreb einen Zeugen seiner heimlichen Zusammenarbeit mit den Deutschen und läßt ihn verhaften. Weinreb wird der Zusammenarbeit mit den Nazis beschuldigt, des Verrats, der Zellenspionage, der Bereicherung durch Einschreibegelder für seine «Listen». Dreieinhalb Jahre verbringt er in Untersuchungshaft. Nach mehrmaliger Zurückverweisung der Anklagen an jeweils neue Untersuchungsrichter kommt es im Oktober 1948 zur Verurteilung durch den «Besonderen Gerichtshof»: Die Strafe von sechs Jahren Haft ist exakt so bemessen, daß sie zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung nach damaliger Gepflogenheit gerade durch die Untersuchungshaft «abgesessen» ist.

Jacques Presser, der angesehenste Historiker der Niederlande in der Nachkriegszeit, hat in seinem 1965 erschienen Werk «Ondergang» (Untergang) über «Die Verfolgung und Vernichtung des niederländischen Judentums 1940-1945» ein eigenes Kapitel Weinreb gewidmet, in dem er nicht nur deutlich klarmacht, daß seiner Meinung nach Weinreb nicht nur zu Unrecht angeklagt und verurteilt wurde, sondern auch zum Ausdruck bringt, daß er eigentlich auf jüdischer Seite der einzige war, der unter Einsatz seines Lebens wirklich Widerstand geleistet und sehr vielen Verfolgten zur Flucht verholfen hat. «Hat man», schreibt Presser am Ende des Weinreb-Kapitels, «Weinreb ein Denkmal errichtet? Hat man ihm einen Orden verliehen? Hat man ihn mit einem Geschenk geehrt? Man hat ihn schwer bestraft. Wie kann das geschehen? Wodurch, weshalb? Ich will es mit einer Antwort versuchen, wohlgemerkt: versuchen. Es ist nicht mehr als meine persönliche Überzeugung. Nun: Der Jude Weinreb ist der Sündenbock geworden, er hat für alles Versagen zahlloser Nichtjuden gebüßt. ... Wenn es keine jüdischen Verräter gab, dann mußte man sie erfinden. ... Hier war nun einer von dem Format, das befriedigte.»

Pressers Einschätzung wird auf unerwartete Weise bestätigt, wenn man Weinrebs weiteren beruflichen Werdegang betrachtet. Offenkundig wollte die niederländische Gesellschaft durch ihre Regierung wieder gutmachen, was sie Weinreb durch ihre Justiz antun ließ.

 

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